Der unerkannte Borderliner

Der unerkannte Borderliner
Borderliner sind für Außenstehende kaum als „gestört“ zu erkennen. Ihr Gestörtsein scheint wunderbar zu gewissen Merkmalen unserer aktuellen Gesellschaft zu passen. Freundschaften wie Beziehungen sind für sie immer so etwas wie ein Geschäft. „Wer mir nahe kommt, will was von mir“, das ist ihre Devise. Und sie geben. So gezielt wie berechnet. Dass sie vor allem nehmen, das fällt selbst dem Beziehungspartner sehr spät auf. Meist zu spät. Dass die Skrupellosigkeit im Umgang mit den Mitmenschen von einer außergewöhnlichen Selbstgerechtigkeit überlagert wird, das verweist auf das eigentliche Problem des Borderliner: des völligen Fehlens eines Gefühls für das eigene Handeln, denn: „ich bin Opfer“. Den Borderliner als Täter, das erfahren vor allem die Kinder. „Ich verlasse dich, wenn du nicht brav bist“, das bindet ein solches Kind auf besonders tragische Weise an das gestörte Elternteil, besonders, wenn es die Mutter ist. Wo die Mutter-Kind-Bindung wie ein Fetisch behandelt wird, bleibt der Borderliner unerkannt.

Vielleicht macht er gerade Karriere bei der Mafia
Ich weiß nicht, ob ich erfreut oder entsetzt über die positive Kommentierung sein soll. Soviel Betroffenheit habe ich gar nicht erwartet. Von der Beschreibung hängt wohl ab, ob wir auch männliche Borderliner diagnostizieren. Vielleicht macht er gerade Karriere bei der Mafia, oder ist als nicht offenkundig krimineller Marktakteur unterwegs. Skrupellosigkeit ist dort wie hier angesagt. Wie sollen wir eine Krankheit erkennen, wo diese sozial honoriert wird? Zu unterscheiden wäre dann aber dort der „Ich-Gestörte“ von den übrigen paranoiden Typen. Zum Borderliner gehört auch der denunziatorische Typ. Schwer zu sagen, ob sie Gespenster sehen, wie der Schizophrene, oder ob es kriminelle Energie ist, die sie dazu verleitet, Unschuldige zu denunzieren, meist dort, wo ihre Manipulationsversuche nicht fruchten. Und wie sollen wir das kritisch sehen, in einer Gesellschaft, in der „Gewalt“ (dessen Opfer der Borderliner ja ist) wie Denunziation (Manipulation) unhinterfragte Aspekte des Herrschens sind?

Der Missbrauch der Mütter
Die Idealisierung der Mutterschaft folgt natürlich einer anderen Idealisierung – der der Kleinfamilie. Einem Konstrukt des frühen Bürgertums, das mittlerweile offensichtlich nur noch mit „Gewalt“ durchgesetzt werden kann. Gleich ob als sexuelle Gewalt (in einer Eliteschule) oder als psychischer Missbrauch (in der Familie), eigentlich wird „die Mutter“ für dieses Konstrukt missbraucht. Hier nimmt der Missbrauch also seinen Anfang. Und gerade in ihrer Rolle als (individuelle) Täterin ist diese Mutter immer auch Opfer. Sie ist das Opfer eines gesellschaftlichen Missbrauchstatbestands. Statt die Gewalt allerdings gegen ihre eigenen Kinder (und/oder „unschuldigen“ Ehemänner – individuell betrachtet, mögen auch die Männer unschuldig sein) zu richten, sollten diese Mütter, sich mit „aller Gewalt“ gegen diesen Missbrauch zur Wehr setzen. Sie sollen laut aufschreien, bevor ihre Kinder das Schreien verlernt haben, bzw. ihre Männer sich ins Schweigen hinüberretten.

Entäußerung des notwendigen Phantasma
Meine Beiträge zu diesem Thema sind bewusst etwas plakativer formuliert. Auch um die Hemmschwelle mal niederzureißen. Skrupellosigkeit mag nicht „grundsätzlich“, also vom ethischen Standpunkt her (auch Herr Ackermann dürfte sich für einen Kantianer halten!), honoriert werden. Doch im Erfolgsfalle wohl eher schon. „Öffentliche“ Borderliner, welche es sich leisten können, ein Heer von Mitarbeitern zu engagieren, alleine schon um die möglichen auffälligen Folgen ihres Gestörtseins zu kaschieren, sind u.U. hervorragende Arbeitgeber; aber lausige Partner (wie Eltern) werden sie wohl bleiben, gleich wie toll (nützlich/profitträchtig) die Inszenierung auch sein mag. Der (unerkannte) Borderliner kann diesbezüglich als „Entäußerung“ (Hegel) des „notwendigen Phantasma“ (Marx) des Subjekts gesehen werden. So kann es kommen, dass ein Psychotherapeut, der selber (ein für sich unerkannter) Borderliner ist, Borderliner zu behandeln sucht, bzw. sie gar ablehnt, weil sie sich so „erfolgreich der Behandlung entziehen“.

2/3 aller Ehen scheitern, 1/3 waren oder sind psychisch erkrankt
Auch ich komme vom Land und kenne die bäuerliche Großfamilie; und ich hab sie fürchten gelernt. Doch wenn die meisten Ehen scheitern, ich glaube, wir bewegen uns da auf 2/3 zu, kann ich nicht glauben, dass die alle nur falsch oder ungenügend „vernetzt“ sind. Und es scheitern ja nicht nur die Ehen, sondern es zerbrechen auch die darin befangenen Individuen. Dass trotzdem weiter geheiratet wird, als gäbe es nichts anderes, liegt nicht nur an unserer Steuergesetzgebung, sondern an der Macht der Ideologie, dem „notwendig falschen Bewusstsein“. Jeder glaubt, dass er persönlich vom Scheitern ausgenommen ist. Doch gerade dieser Glaube, macht das unvermeidbare Scheitern zu einer ganz persönlichen Tragödie. Dass gescheiterte Ehen das Armutsrisiko Nr. 1 geworden sind, kennzeichnet nur die äußere Tragödie. Die schlimmere ist die innere, die verdrängte, die Verzweiflung an sich selbst. Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland leiden (oder haben schon gelitten) an einer psychischen Erkrankung. Hier sehe ich den Zusammenhang.

Die Hoffnung stirbt vielleicht mal nicht zuletzt
Danke, Herr Reichert, ich werde mir das Buch besorgen. Ich bin erstaunt über so viel Betroffenheit wie Fachlichkeit in diesem Forum. Das bestätigt meine Theorie bezüglich der gesellschaftlichen Bedingtheit ganz besonders des Borderliner. Autismus wie Borderline wollen mir die typischen pathologischen Symptome der Zeit sein. Zugleich kennzeichnen sie darin eine Normalität, die pathologischer nicht sein kann. Doch die fachliche Kritik so vieler Betroffener demonstriert mir ein außergewöhnlich hohes Bewusstsein, was Hoffnung macht. Diesmal stirbt vielleicht nicht die Hoffnung zuletzt, sondern markiert den Anfang.

faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/psychisch-kranke-eltern-war-ich-nicht-lieb

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2 Trackbacks

  • Von Ist das jetzt gut oder böse? am 28. Januar 2014 um 16:27 Uhr veröffentlicht

    […] in Form von Anreizen daher, nicht vom Orwellschen Bösen. Doch wie unterscheiden wir, wo doch der Maßstab für jegliche Unterscheidung verschwunden scheint. Was sagt uns eines Bush Juniors Hybris gegen das Böse, wo uns Guantanamo keine Antwort […]

  • Von Peergroupschwülstigkeit am 30. Januar 2014 um 19:23 Uhr veröffentlicht

    […] Menge Illusionen abzulegen habe, das habe ich schon bemerkt, sonst hätte ich vermutlich nicht die Borderliner-Erfahrung, von der ich in letzter Zeit berichte. Oh, jetzt werde ich selbstbezüglich, sorry. Doch irgendwas […]

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