Es wird bald „zurück geschossen“

Es wird bald „zurück geschossen“
Dass die Gefahr eines Militärputsches nicht unmittelbar drohe, klingt ein wenig schräg ob der einfachen Tatsache, dass das Militär doch an der Macht dort ist – seit Nasser, im Prinzip. Bedenkt man aber, dass Ägypten, nach Israel und zusammen mit Jordanien und Saudi Arabien der wichtigste Verbündete der USA dort ist, dann kann man sich schon so gewisse Worst-Case-Szenarien vorstellen. Solche, die alle etwas von einem Militärschlag haben (ich sage ausdrücklich –schlag, nicht –putsch). Madam Clintons Verstimmtheit spricht diesbezüglich Bände. Die ganze Nahost-Strategie der USA läuft Gefahr zu scheitern. Das bringt die subalternen Kräfte dort auf den Plan. Das macht Israel nervös, wie auch die Saudis, nebst all den anderen Operettenscheichs. Und den Iran dürfen wir nicht vergessen! Das einzige islamische Land, das die Vorkommnisse dort, mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nehmen wird. – Scheint die Schia doch endlich zu obsiegen.

Ganz aktuell aber rechne ich mit einem Übergreifen der Proteste, wenn nicht gar des Aufstandes, auf die übrigen sunnitischen Länder, vorneweg der Türkei. Wird doch dessen Wirtschaftsaufschwung und damit dessen heimliches islamisches Regime faktisch aus der Portokasse der arabischen Länder finanziert. – In der Absicht natürlich, die Erben der Osmanen in eine sunnitisch-wahabitische regionale Staatengemeinschaft einzufangen. „Atatürk“ dreht sich gerade mal wieder im Grabe.

Wenn es die Hoffnung der USA vielleicht gewesen war, den paniranisch-pantürkischen, resp. panarabischen Superkessel solange hoch zu kochen, bis dessen Inhalt verdampft wäre, so könnte es jetzt passieren, nämlich zusätzlich befeuert durch nicht mehr enden wollende Volksaufstände, dass der Koch sich am heißen Dampf dieses Kessels verbrennt.

Auf jeden Fall bedeutet das auch das Ende des Obamaregimes, wie doch ganz generell das Ende für jedes um den Frieden ringenden Regimes. Die Falken werden wieder gebraucht, denn die nächste Kriegsfront zeigt sich gerade am Horizont. Und wenn es ganz schlimm kommt, dann schwillt dieser Kessel zum Supergau. Die ganze Welt könnte von dort aus in Brand gesetzt werden. Wenn alle akuten Konflikte durch das arabische Nadelöhr gehen, dann wird’s nicht nur im Innern des Nadelöhrs heiß. Die Europäer können schon mal den Kopf einziehen, denn es wird bald „zurück geschossen“.

Unter dem dicksten Pulverfass der dünnste Boden
@Marco Settembrini di Novetre: Ich will wirklich nicht den Propheten spielen, deswegen ist das auch nicht als „Ankündigung“ zu verstehen, sondern als Planspiel. Doch beobachte ich diese Region, insbesondere auch unter dem Aspekt des Reislamisierung der Türkei, schon seit gut 35 Jahren. 1985, wo kaum einer über Islamismus in der Türkei redete, schrieb ich meine Diplomarbeit zu dem Thema „Kemalismus, Islamismus, Faschismus und die Unterdrückung der Frau“. Noch durfte der politische Islam in der Türkei unter der kemalistischen Knute sein knechtischen Leben führen, doch mit dem letzten Militärputsch, im September 1981, überschritt der sog. laizistische Kemalismus seinen Zenit. Verspielte, in dem er die Revolutionäre Linke zu tode marterte, seine letzte Karte. Denn auch diese Linke war, wenn auch diesbezüglich sich darüber wenig bewusst, u.a. ein Erbe des Kemalismus. – „Die Revolution frisst ihre Kinder.“ Und ich neige nun mal dazu, nicht die „äußeren Bedingungen“ – die „Funken“ -, sondern die inneren Ursachen als entscheidend anzusehen. Und so besehen, sitzt die Türkei nunmehr nicht nur auf dem dicksten Pulverfass, sondern auch auf dünnstem Boden.

Die Türkei ist, in dieser Region, neben dem Iran das Land mit der größten Militärmaschinerie (von Israel mal abgesehen, aber das steht auf einem anderen Blatt), und sie hat auch vergleichbare Ambitionen. Ich nannte die Begriffe ja schon – pantürkische, bzw. paniranische. Beide Länder sind politisch ähnlich „inhomogen“ (Kurdenprobleme in der Türkei und Probleme mit den sunnitischen Belutschen in Iran, welche zugleich den Drogenhandel aus Afghanistan kontrollieren, und sich dadurch eine quasi politische Autonomie erkämpft haben). Daneben haben sie ähnliche Konflikte mit ihren religiösen Minderheiten. Die Aleviten in der Türkei sind die zweitgrößte religiöse Gruppierung und zugleich als solche fast deckungsgleich mit dem ständig aufständischen Volk der Kurden. Sie sind ähnlich liberal verfasst wie die Bahai vielleicht in Iran. Auch christliche und jüdische, oder auch armenische Minderheiten, haben sie, die sie nicht besonders mögen. All diese Konflikte versuchen die Islamisten unter Kontrolle zu bekommen, doch scheinen sie nicht begreifen zu wollen, dass sie selber als Teil dieses Konflikts, nicht dessen Lösung sein können. Die türkische Herrschaft, die Herrschaft der Türken, des türkischen Mannes, insbesondere auch dies unter Führung eines westlich orientierten Militärs, verliert allmählich ihre Legitimation. Die herrschende Klasse ist sich uneins darüber, ob ihr westliches Militär oder ihr arabisches Geld ihre Macht sichern soll. Und während ihr bald das arabische Geld ausgehen wird, haben die Militärs kaum noch die Macht einen Putsch wie gehabt, einen unter Natoführung, durchzuziehen. Und genau das ist die schwächste Stelle des gegenwärtigen Regimes.

Auch wenn das vielleicht nicht so deutlich erkennbar ist, doch ähnelt die Lage der Frau in der Türkei der im Iran zunehmend. Man muss in der Türkei kein Kopftuch tragen, aber im anatolischen Teil, besonders auf dem Land, läuft Frau kaum ohne rum. Doch das ist nur äußerlich. Entscheidend ist, was man nicht sieht. Die Frauen sind in beiden Ländern wirtschaftlich stark im Kommen. Das verschärft den eh schon angespannten politischen Konflikt, fügt ihm den Geschlechterkonflikt hinzu. Ein Phänomen, das die Türken bisher nicht kannten, hingegen aber schon die Iraner. Und das verändert auch die soziale Grundlage in beiden Klassengesellschaften. Die Bauern sind am verschwinden, die Arbeiter massiv politisch unterdrückt, ja als selbständige Kraft kaum noch erkennbar. Entweder vom Kemalismus erdrückt oder vom Islamismus verführt, so stellen sich die männlichen Massen dar. Was im Übrigen genau der Grund dafür ist, warum sich der Islam als politische Ideologie überhaupt anbot, nämlich als Waffe des Mannes gegen die Frau. Und genau das politisiert die Frau.

Im Iran kann man das noch nicht erkennen, da die Öffentlichkeit geblendet ist durch die gleichermaßen öffentlichen Schauprozesse. Aber wo der Mann, eben nicht nur der Mann im Proletariat, versagt (die herrschende, nämlich männliche Klasse, versagt im Angesicht der Frau unaufhörlich), verliert er neben dem Respekt auch die soziale wie wirtschaftliche Kontrolle über die Frau. Auch wenn es zunächst noch so aussehen mag, dass die Frau unter diesem sozialen Druck nieder gehalten wird, so erhöht genau dieser Druck ihre revolutionäre Potenz.

Wo die Frau gezwungen ist um ihre Existenz, ihre wirtschaftliche, ihre physische, ja ihre sexuelle – und damit um ihre besondere politische Identität – zu kämpfen, da hilft weder Unterdrückung noch patriarchalischer Charme. Nicht in modernen Nationen. – In Arabien dagegen vielleicht, aber auch das scheint sich im Moment ja gerade zu ändern. Auch dort kämpfen die Frauen in vorderster Front. Und auch das will mir ähnlich erscheinen: Das Patriarchat, will heißen: die Unterdrückung der Frau, ist sowohl in den arabischen wie auch in den turkstämmigen Völkern noch nicht all zu alt (im Iran hingegen schon sehr!). Mohammeds Ehereform, welche da den Bruch markierte, liegt erst gut 1400 Jahre zurück. Und so kommen die äußeren und die inneren Bedingungen zusammen, erhöhen den Druck besonders dort, wo die modernsten Konflikte mit den ältesten, doch wiederum nicht mit den ganz alten, sich paaren. Diese Region ist modern-politisch betrachtet noch nicht so alt (wie auch vergleichsweise noch nicht so überaltert!), wie auch nicht zu jung, für einen ordentlichen Aufstand. – Die Jugend bildet die revolutionäre Hefe.

Und dieser Druck muss vor allem auch ein intellektueller sein. Und auch diesbezüglich sind sich der Iran und die Türkei nicht unähnlich. Die Massen von intellektuellen Frauen wissen vielleicht noch einen Ausweg aus ihrer sozialen Not, aus ihrer sexuellen vielleicht auch noch, aber wohin mit dem intellektuellen Notstand? Ein Grund vielleicht dafür, warum sie ihr Leben geben – für einen Moment des Gefühls der Gleichberechtigung.

Die Proteste in der Türkei gegen die permanenten Verschwörungen der kemalistisch-faschistischen Diktatur, bzw. die Heucheleien jener faschistisch-islamistischen Pseudodemokratie diesbezüglich, werden so langsam für die politisch wach gewordene Frau zur Zumutung. Auch weil die Massen, insbesondere nämlich die weiblichen, längst wissen, dass diese Zumutungen eben auch den Zutritt zur westlichen Welt – und damit in Richtung „Freiheit“ – versperren.

So tritt der moderne Geist aus dem Schatten der Vergangenheit hervor. Zumindest intellektuell ist die Türkei zur Nation geworden – eine zunehmend weibliche. Und während die Frau in der Türkei – auch dies unter Einfluss der Islamisten – in den letzten Jahrzehnten aus dem Produktionsprozess gedrängt worden ist, nimmt ihr Anteil im Management zu. Europaweit an zweiter Stelle – nach Finnland, können wir da lesen. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, einer geringen Zeit, wann sich die Massen der Frauen ihren Anteil daran erkämpfen.

Sollte sich in der Türkei eine Revolutionäre Linke re-stabilisieren, was mir wie gesagt, nicht nur wegen der aktuellen Schwäche der Herrschenden, sondern vor allem aufgrund des intellektuellen Zustandes in diesem Land, durchaus als reale Möglichkeit erscheinen will, dann rechne ich mit sozialen Aufständen, wie sie die Türkei, ja die Welt, bisher noch nicht erlebt hat. Die Linke, die Frauen und die Kurden, das wäre die quasi unbesiegbare Phalanx.

Und wenn die USA, bzw. die Nato, dann dort intervenieren sollten, dann holen sie sich die Pest an den Hals. In der Türkei wird das keiner mehr dulden.

Die Frau besitzt 1 % des Welteigentums
@Pérégrinateur: Danke für die ausführliche Stellungnahme und für die wirklich intelligenten Anmerkungen.
Auch wenn die Karawane nun womöglich weiter gezogen ist, möchte ich darauf doch noch Stellung beziehen.

1. Paniranismus: Das einigende Band liegt im Negativen. Beide haben noch nicht ganz überwundene, bzw. neue erwachte „dynastische Interessen“. Ganz besonders seit dem Zerfall der Sowjetunion. Es gibt da gewisse Gegensätze. So wird Aserbaidschan sowohl von der Türkei als auch vom Iran umworben. Nur die Haltung in der Armenierfrage hat die Iraner aus dem Rennen geworfen. Doch auch die Türken müssen ihre Haltung zu Armenien überdenken, denn Aserbaidschan ist nicht der Nabel der Welt, wenn auch eine lockende Öldestination. Und die Emirate betrachten die Perser ehe schon immer als zu ihnen gehörig.

2. Mann und Frau: Ich sagte, dass der p o l i t i s c h e Islam als Waffe gegen die Frau eingesetzt wird, nicht der Islam schlechthin. Als monotheistische Religion sehe ich da zum Christentum grundsätzlich keinen großen Unterschied. All diese Religionen sind per se frauenfeindlich. Doch der politische Islam ist eine quasi moderne Kriegswaffe. Ich verweise hier auf das wunderbare Buch von Nicholas D. Kristof und Sheryl WuDunn „Die Hälfte des Himmels“, wo zu dieser Frage auch recht gut Stellung bezogen wurde. Allerdings stimme ich nicht überein in ihrer etwas zu freundlichen Einschätzung bzgl. der Wirkungen der mohammed. Ehereform. Diese mag wohl im historischen Sinne als Fortschritt gelten, doch im sozialen Sinne war das die Manifestation der Entmachtung der Frau. Näheres hierzu in “Hafiz – die Homo-Erotik – der Nihilismus”
Aber selbst das ist nicht mal das Wesentliche. Ich denke, es ist nicht verkehrt zu postulieren, dass wir im Jahrhundert, wenn nicht gar im Jahrtausend, der Frau leben. Das Ende der Klassengesellschaft wird wohl auch mit dem Ende des Patriarchats zusammenfallen, so wie beides auch zusammen begann. Und dass das nicht nur eine philosophische Vision ist, leite ich den politischen Geschehnissen ab. Was wir weltweit gerade erleben, ist ein Weltbürgerkrieg – gegen die Frau. Nicht nur in islamischen Ländern. Dort aber ganz besonders. Und jetzt möchte ich noch ein paar Zahlen nennen um das zu verdeutlichen:
In Afrika sorgen – laut Welthungerhilfe – die Frauen für 80 % der Nahrung, doch besitzen sie weniger als 10 % der Felder.
Weltweit erbringen die Frauen 52 % der Arbeitsleistungen, erhalten aber nur 10 % des Welteinkommens und besitzen nur 1 % des Eigentums.
Diese Zahlen sind insofern auch kritisch zu betrachten, da es schwierig ist, die nicht bezahlte Arbeit, die Arbeit in häuslicher Sklaverei, als die gesamte eben nicht Wertschöpfung der weiblichen Arbeit, hier zu oder raus zu rechnen.
Aber schon der erste Blick auf diese Zahlen macht deutlich, dass selbst bei Zerstörung der Lohnarbeit durch das Kapital selber – Stichwort: Prekariat -, die Ausbeutung der Frau nicht nur geblieben ist, sondern vermutlich hierbei sogar noch steigen wird.
Das eigentliche Proletariat ist wohl die Frau. Und deren Epoche hat jetzt erst begonnen, auch und gerade in den Industrieländern. Denn dort erhalten die Frauen immer noch 22 % weniger Lohn für die gleiche Arbeit. (Zitiert nach „Die Hälfte des Himmels“, Vorwort, 1. Seite).
Und das mag auch eine Erklärung dafür sein, warum die Klassenfrage hierbei nicht die alles entscheidende ist. Die sexuelle Unterdrückung der Frau und ihre besondere Ausbeutung ergibt sich aus dieser, ist quasi d i e Klassenlage der Frau. Natürlich ist die Bourgeoisfrau hiervon Welten entfernt, doch als Frau teilt sie auf jeden Fall die Zuschreibung als eine solche auch mit der untersten Schicht ihres Geschlechts. Auch wenn sie die Mittel hat, sich bezüglich der Folgen zu wehren. Da aber nur ein Prozent am Eigentum an diese Frau fallen – und wir können davon ausgehen, dass diese Zahl auch eher zu hoch gegriffen ist -, ist sie als „Bourgeois“ genau genommen zu vernachlässigen. Ich verweise auf das interessante Buch von Roswitha Scholz „Der Mann ist das Subjekt“. Dass ich mit Frau Scholz, wie übrigens mit der gesamten Wertkritik und Wertabspaltungskritik, darüber hinaus wenig gemeinsam habe, habe ich in meinem Philosophus Mansisses dargelegt. Marx kann nicht in einen wert(abspaltungs)kritischen und in einen klassenkämpferischen Marx geteilt werden. Wer das versucht, verfälscht ihn.

3. Intellektueller Notstand: 65 % der iranischen Studenten sind Frauen. Die meisten davon erhalten dadurch bestenfalls einen höheren Marktwert – auf dem Heiratsmarkt. Wenn das keinen intellektuellen Notstand kennzeichnet, dann weiß ich nicht, wie man ihn drastischer beschreiben könnte. Es entsteht hier ein unerträglicher Riss zwischen der sozialen und der intellektuellen Lage der Frau. Das allein besitzt Sprengkraft für das ganze aktuelle Jahrhundert. Vergessen wir nicht: Dass das politische Bewusstsein, soweit es ein revolutionäres ist, auch ein auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitetes ist. Und das kennzeichnet im Übrigen nicht nur die wichtigste revolutionäre Potenz eines revolutionären Subjekts, sondern auch die der zukünftig wichtigsten Produktivkraft. Die Bourgeoisie kann diese Produktivkraft nicht ausbeuten, ohne sie wenigstens in Ansätzen zu befreien. Das gilt ganz besonders für die Frau. Wo das Hirn die wichtigste Ware zu werden scheint (Frank Schirrmacher – er nennt den Begriff Ware allerdings nicht), die Rede ist schon von „Menschencomputern“, also der Vernetzung von einer möglichst großen Zahl von menschlichen Hirnen, kann das vermutlich sogar intelligentere Geschlecht nicht weiterhin am Kochtopf versauern! Das erst bringt richtig Schwung in die soziale Frage. Im Übrigen scheitert im Moment die historische Bildung des Mannes. Sie versagt angesichts der neuen Herausforderungen in der Ökonomie und auch in der Politik.
Ein Grund mehr das Versagen des Mannes schlechthin zu konstatieren. Nicht nur im Angesicht der Frau!

4. Identität: Selbstverständlich ist jede Identität nur eine relative. Das ergibt sich schon aus dem Gesetz der Dialektik, in dem die Einheit der Gegensätze relativ, der Kampf absolut ist. Wir reden trotzdem von Identität, um Dinge von einander abzugrenzen. Anders können wir die Welt nicht in Begriffe fassen. Und die besondere Identität der Frau, die, die sie vom Mann trennt, liegt in ihrer Rolle als unterdrücktes sexuelles Wesen. Und das macht auch ihre politische Identität aus. Ihre besondere, ihre „abgespaltene“, wie Roswitha Scholz sagen würde. Dass sie auch von der Wertverwertung abgespalten ist, liegt ja gerade darin begründet. Denn nur als sexuelles Wesen, kann sie weiterhin, nämlich neben dem Lohnarbeitersubjekt quasi als Sklavin gehalten werden. Ihre Produkte, soweit sie dort entstehen, oder ihre Dienstleistungen, soweit sie häuslich verrichtet werden, haben keinen „Wert“ im Sinne der kapitalistischen Verwertung des Wertes, stellen keine abstrakte Arbeit dar. Wenn man so will, ist das auch der Ansatz dafür, innerhalb des Kapitalismus eine vom Wert nicht erfasste „Ökonomie“ zu haben, eine, die unter bestimmten Umständen eine revolutionäre Potenz entwickelt.
Mit ein Grund für, warum das Kapital auch die Frau vollständig zu verwerten sucht, selbst in diesem abgespaltenen Bereich. Obwohl der Kapitalismus eine patriarchal verfasste Gesellschaft ist, werden eben diese Grundlagen so in Frage gestellt. Das ist der ganze Grund für diesen Gender-Diskurs. Die Verwertungskrise des Kapitals – der tendenzielle Fall der Profitrate – zwingt dieses seine patriarchalen Grundlagen zu untergraben.

5. 1400 Jahre: Ja, da ist eine lange Zeit, doch auf die historischen Epochen bezogen nicht wirklich. Wenn man bedenkt, dass das griechische Patriarchat wenigstens 4000 Jahre alt ist, das der Juden, Sumerer und anderer Völker im Nahen Osten vielleicht sogar noch älter. So wären 1400 Jahre eines arabischen Patriarchats dagegen gar nichts. Die Unterdrückung der Frau, will heißen: das Bewusstsein hiervon, resp. die Selbstverinnerlichung diesbezüglich durch die Frau, kann umso erfolgreicher sein, je länger sie schon andauert. Noch schlimmer allerdings wäre ein Bewusstsein des Vergessens diesbezüglich. Solches haben wir. Wir reden von Gleichheit vor dem Gesetz und akzeptieren 22 % Lohnunterschiede. Um nur einen Gegensatz zu benennen. Wenn Frau schon gar nicht weiß, dass sie als solche ausgebeutet und unterdrückt wird, dann wird’s problematisch.
Für eine revolutionäre Bewegung sind daher Verhältnisse die noch relativ offen sind, immer die besseren.

6. Die Türkei: Das mit dem „tiefen Staat“ ist mir bekannt. Doch ist das nur die Oberfläche. Hier habe ich zum ersten Mal versucht, das Wesen der Schwäche des Kemalismus darzulegen. „Reflexhaftes“ Zuschreiben oder nicht, der Kemalismus und der Islamismus sind in einer Einheit verbunden. In einer negativen und in einer positiven. Sie schließen sich aus und sie bedingen sich gegenseitig. Ich habe es mehrfach beschrieben. Und auch hier ist das einigende Band die Unterdrückung der Frau. Die Kemalisten sind nicht wirklich an einer befreiten Frau interessiert, sondern nur an ihren säkularen Formen. Ich drücke es mal ganz ordinär aus: Der kemalistische Bourgeois ist nicht an der Betschwester interessiert, sondern an der Hure. Wer das nicht glauben mag, der suche mal die diversen Etablissements in der Türkei auf, in den besseren Wohnvierteln und unterhalte sich da mal mit diesen Leuten! So als Gelegenheitsschreiber in Sachen „Incentivreisen“ ist mir diese Szene recht gut bekannt. Und genau das scheint den Islamisten nicht zu passen. Doch auch die sind, in Konkurrenz mit den Kemalisten vielleicht, im selben Gewerbe aktiv – als Zuhälter ihrer Frauen wie als Waffenhändler zur Finanzierung der Konterrevolution (gegen sie), als die Hoteliers für die Vergnügungsreisen auch der türkischen herrschenden Klasse. Nur so als Randnotiz: Als Herr Öger von Ögertours in Kuba touristisch aktiv werden wollte, wurde er vom kubanischen Tourismusministerium – und dieses war schon immer Teil der Militärökonomie Kubas, bzw. deren Grundlage, sprich: gehörte schon immer Raoul Castro – speziell bedient – nicht nur vom Ministerium, aber auf dessen Veranlassung.

Waffen und Prostitution, das gefiel mit Sicherheit auch Herrn Öger! Und man kann ohne Übertreibung sagen: die Türkei ist besessen von der Prostitution, wie auch von Waffen – und von der Gewalt. Und auch diesbezüglich finden wir interessante Hinweise in „Die Hälfte des Himmels“, wo genau der Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der Frau und der Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft hergestellt wird. Graue Wölfe und Islamofaschisten arbeiten in derselben Szene, nur manchmal gegeneinander – als Konkurrenten. Doch die Aktivitäten des türkischen Auslandsgeheimdienstes MIT umfassen beide wieder. Der von mir schon erwähnte Mehmet Agar gehörte beiden Szenen an. Er war ein Protegé von Erdogan und zugleich ein Terrorkommandeur der türkischen Todesschwadronen, ein Agent des Gladio-Netzwerkes. Er ist Teil der herrschenden Klasse der Türkei und ein international aktiver Mafiosi.

Es kann das Eine ohne das Andere nicht
@Marco Settembrini di Novetre: „Gut, so eindimensional haben Sie es natürlich weder gemeint noch geschrieben, das ist mir schon klar. Allein Ihre Volte mit dem Kapitalismus und dem Genderdiskurs macht das hinlänglich deutlich. Auf diesen Aspekt werde ich sicher nochmal zurückkommen, wenn auch nicht unbedingt jetzt und hier.“ Gut darauf warte ich. Im Übrigen verweise ich auf meinen „Philosophus Mansisses“ (s.o.), wo ich eindeutig, gerade in Abgrenzung zum Feminismus einer Frau Scholz, dem Klassenkampf den Vorrang gegeben habe. Doch ist das vielleicht nicht einfach als primär und sekundär zu verstehen, sondern als teilweise identisch und als teilweise eben komplementär („der Kapitalismus ist janusköpfig“, Philosophus…). Und besondere Situationen können da auch mal ein anderes Bild liefern, wo ich Ihnen eben auch nicht zustimme, gerade in Bezug auf die gegenwärtigen Kämpfe in Arabien. Auf jeden Fall aber fällt beides zusammen, kann das eine ohne das andere nicht.

Wert ohne „Wert“
@Marco Settembrini di Novetre: Der Philosophus, ich gestehe es, ist ein wenig schwierig. Vielleicht auch deshalb, weil ich mich da nur so nebenbei mit der Genderfrage beschäftige und ich mittlerweile auch weiter gekommen bin. Die Postulate dort sind noch sehr abstrakt. Hauptthema sollte die Verteidigung des Klassenkampfes in der Geschichte (gegen Wallner) und in der Theorie des Marxismus (gegen Kurz) sein. Die Genderfrage gewinnt insofern an Bedeutung, als der Klassenkampf sich durch die Prekarisierung des Proletariats als zunehmend inkonsistent darstellt. Und hier kommt Frau Scholz mit ihren „Differenzen“ („Differenzen der Krise – Krise der Differenzen“) und macht den Wallner quasi perfekt. Also: Der Klassenkampf sei ein Mythos (Wallner), überhaupt sei die „Geschichte“ ein solcher, und die „Differenzen“ sind das, was an Klassen übrig geblieben sei. So ungefähr lese ich dieses Tandem Wallner-Scholz. Also nicht nur, dass da der Klassenkampf mit einem Wallner (einer Wertkritik/Wertabspaltungskritik) auf den Hund gekommen ist, sondern auch jener postfeministische Feminismus einer Frau Scholz.

Auch wenn die Autoren das wohl nicht eingestehen werden, so stehen sie doch in der Tradition einer postmodernen Leugnung jedweder Identität, jedwedes Subjekts. Denn „das Subjekt ist in der Krise“ (Robert Kurz).
Es wird so getan, als wäre Identität schon immer als etwas Absolutes gesetzt. So als müsste man Marx in der Dialektik belehren – posthum. Als wäre das Proletariat nie ein Krisensubjekt gewesen. Kapital und Lohnarbeit sind von Beginn an auf Krise hin organisiert. Ihrer beider Auflösung ist ihnen gewiss!
Etwas schwieriger ist es allerdings mit dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht – weiblichem Geschlecht. Es führt kein Weg daran vorbei, die Aussage Engels sich zu vergegenwärtigen. Nämlich, dass die erste Klassengesellschaft mit der Unterdrückung der Frau „zusammenfällt“ (Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates). Denn er sagt hier nicht, das eine sei primär, das andere sekundär, nein: es fällt zusammen!

Diese Definition ist ganz offensichtlich nie ganz verstanden worden, auch und gerade nicht von den Marxisten, die sich da in bürgerlichem Chauvinismus gefallen, immer noch. Nur lasse ich mir nicht von bürgerlichen Feministen erklären, dass der Klassenkonflikt obsolet sei, hingegen aber nicht der Geschlechterkrieg. Der Klassenkonflikt steht im Kapitalismus im Zusammenhang mit der Verwertung des Werts, der Ausbeutung von Lohnarbeit, der Begründung einer besonderen Produktionsweise, dem Kapitalismus. Und ist nicht etwa ein Anhängsel des Kapitals, gar eine Anekdote der Geschichte. Wo Kapital ohne Lohnarbeit nicht denkbar ist, da ist auch keine Verwertung des Werts ohne Klassenkampf möglich. Das eine geht ohne das andere nicht, ja es ist dies die Identität im Gegensatz.

Der Geschlechterkonflikt ist genauso alt wie der älteste Klassenkonflikt, doch ist er eben nicht die Grundlage für eine eigene ökonomische Basis. Er gehört zur Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ja!, doch gehört er vor allem zum Überbau jedweder Klassengesellschaft. In der Basis ist er als negative, nämlich abgespaltene, Verwertung zu begreifen. Einer Verwertung, die soweit sie nicht zu Wert führt, eben nicht auf der Ausbeutung von abstrakter Arbeit beruht. Nicht Tauschwert wird hier geschaffen, sondern eine Art Gebrauchswert, allerdings ohne diesem einen Wert zuordnen zu können. Es gibt nämlich auch keinen Gebrauchswert ohne Tauschwert. Es gibt Gebrauchsgüter, Gegenstände, Dinge, welche aber keinen Wert darstellen – nicht außerhalb der kapitalistischen Verwertung. Denn nur der Tauschwert hat einen Wert.
Doch Ausbeutung ist es, allerdings mehr oder weniger die Ausbeutung von Sklavendiensten, somit eine vorkapitalistische. Und in diesem Sinne gehört der Geschlechterkonflikt in den Überbau einer jeden Klassengesellschaft, ist deren Metagesellschaft.

Diese Ausbeutung wird nun im Zuge der Genderisierung der Gesellschaft in positive Verwertung umzuleiten gesucht, sprich: in Richtung Ausbeutung abstrakter Arbeit. Und zwar nicht nur in der Form der industriellen Lohnarbeit, sondern auch in der Form der privaten Hausarbeit. „Hausarbeit“ wird zunehmend auch als Lohnarbeit interessant. Der Computerarbeitsplatz macht es möglich. Die feministische Forderung von Bezahlung der Hausarbeit ist nichts anderes als eine Bestätigung dessen.

Dass das bisher nicht passierte, fußt wohl darauf, dass das Kapital bei der Ausbeutung die Sklavin Frau als unbezahlte Reserve des Lohnarbeiters bevorzugt. Das verbilligt nämlich den Wert der Ware Arbeit, senkt deren Reproduktionskosten, erhöht somit den relativen Mehrwert.
Die Notwendigkeit überzugehen in Richtung Ausbeutung des Hirns des Lohnarbeiters, wo jedes Hirn gleichermaßen unverzichtbar wird, lässt eine solche Präferenz obsolet werden.

Das Kapital muss sich entscheiden: billige Lohnarbeit oder hochwertige Geistesarbeit!
Keine leichte Entscheidung für das Kapital, das vom tendenziellen Fall der Profitrate getrieben wird. Diese Entscheidung trifft das Kapital aber auch nicht autonom, sondern letztlich abhängig vom Klassengegner. Geht es in die Richtung des Kapitals, dann sieht das so aus, als hebe sich die Geschlechterpolarisation auf, denn geht sie in den Klassenantagonismus über – vollständig. Frau proletarisiert restlos.

Bornemann spricht gar von einer Auflösung der geschlechtlichen Identität von Mann und Frau (Das Patriarchat). Die Gesellschaft wird eine androgyne. Allerdings setzt das den positiven Verlauf des Klassenkampfes voraus. Denn das wäre wohl die harmonischste aller Optionen. Das Kapital, gerade auch in seiner patriarchalen Metaverfasstheit, kann das Problem so oder so nicht lösen, denn nur zuspitzen.

Der Klassenkampf des Proletariats und der Kampf der unterdrückten Frau bleiben Verbündete, wenn auch nicht immer und überall. Je mehr das Kapital bestimmt, desto mehr gehen sie auseinander, bekämpfen sie sich, dann sieht es so aus, als würde der Klassenkonflikt ein weiblicher, während der männliche Teil prekarisiert. Je mehr das Proletariat die Richtung bestimmt, desto mehr gehen sie zusammen, und es könnte so werden, wie Bornemann es darstellt.
Auf keinen Fall aber wird der Klassenkonflikt sich auflösen, sich restlos prekarisieren, denn auch der weibliche Teil würde diesen aufrecht erhalten. Nur der ständige Formwechsel, der ist ihm sicher.

Was uns hoffentlich noch ein wenig hilft, wäre das Bildungselement, das der Lohnarbeit ständig zufließt, und welches vielleicht den Klassenkonflikt und den Geschlechterkonflikt auf intelligente Weise zusammenführen ließe. Denn obwohl der Wert der Lohnarbeit mit steigender Produktivität sinkt, steigt dieser wiederum mit wachsendem Anteil an geistiger Arbeit. Die geistige Ausbildung des Lohnarbeiters erhöht nicht nur die Kosten der Reproduktion, sondern erfordert die volle Teilnahme der Frau und würde diese als Reserve für die Ausbeutung des Lohnarbeiters als kontraproduktiv, denn unökonomisch, erkennen lassen.

Je mehr Hirnanteile im Lohnarbeiter, desto mehr ist die Frau gefragt, als Lohnarbeiter. Die Hausarbeit, die Kinderaufzucht, etc. p.p. muss anders organisiert werden, vielleicht robotisiert.
In diesem Sinne gilt also auch: je intelligenter die Gesellschaft, desto freier wäre sie.
Im Idealfall lösen sich beide auf, im Prozess der sozialistischen Revolution, der kommunistischen Umgestaltung.

Die Notwendigkeit zur Freiheit
Das Thema, das Sie jetzt hier anschneiden, ist für einen Marxisten, einen revolutionären Marxisten, selbst so spannend, dass ich befürchte, Sie jetzt in eine für Sie evtl. langweilige, da mehr oder weniger interne, Theoriedebatte, hinein zu ziehen.
Ich überlege mir daher die ganze Zeit, wie ich Sie als Nichtmarxist, mit einer angemessenen Formulierung anspreche.

Ich versuche es mal:
Es geht um das altbekannte Verhältnis von Führung und Masse, Partei und Klasse, Kader und Partei. Letztlich aber um das Verhältnis zwischen der ökonomischen Bewegung und der politisch-ideologischen, der subjektiven, und der zwischen der Basis und dem Überbau. Immer und überall ging es und geht es auch weiterhin um die Frage des ökonomischen Determinismus.

Bevor ich mich daher konkret zu den angeschnittenen Problemfeldern äußere, möchte ich aus einem Brief von Engels an Starkenburg aus dem Jahr 1894 zitieren, wo er sich hierzu sehr grundlegend, dennoch nicht konkret äußerte.

Engels, der Marx überlebte und daher dem neuen Zeitalter, das des herannahenden 1. Weltkrieges und damit auch der sozialen Revolution, aus der Perspektive von Krieg und Revolution nämlich, näher stand, beschäftigte sich zum Ende der alten Epoche noch mit dem Verhältnis zwischen Preußentum und russischen Zarismus. Richtig erkannte er, dass in der Vorkriegsepoche noch der russische Zarismus die Hauptgefahr für die demokratische und damit auch für die sozialistische Bewegung in ganz Europa war, was sich aber im Verlauf des 1. Weltkrieges dann insoweit erledigte, als dass der Imperialismus zur konterrevolutionären Hauptkraft wurde.

Noch glaubte er, dass die demokratische wie sozialistische Bewegung eines kapitalistisch-„fortschrittlichen“ Westeuropas sich vor dem Zarismus zu hüten hätte; doch hätte er die Entwicklung zum 1. Weltkrieg noch voll erlebt, so wäre ihm schnell klar geworden, dass gerade die fortgeschrittensten Räuber die in aller Regel schlimmsten sind. Und hätte er die russische Revolution erlebt, so wäre er Leninist geworden, dessen bin ich mir sicher. Wie auch immer, mit den imperialistischen Kriegen, wurde die Theorie der proletarischen Revolution zur unmittelbar taktischen Aufgabe. Nicht mehr die Sammlung der proletarischen Klassenkräfte in den mehr oder weniger friedlichen Zusammenstößen mit dem Klassenfeind, stellte sich als Hauptaufgabe, sondern die Schmiedung dieser Kräfte im Dauerfeuer von imperialistischen Kriegen und faschistischen Konterrevolutionen. Diese taktische Wendung bedingte auch eine theoretische, nämlich die Notwendigkeit einer gesonderten Theorie des Parteiaufbaus, nämlich als die Grundvoraussetzung für die Schaffung eines revolutionären Subjekts. Doch hören wir Engels selber, wie er sich da dem bis dato noch nicht geborenen Leninismus annäherte:

Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“ (Marx-Engels Briefe über „Das Kapital“, S. 366)

Und es war Lenin, der begriff, dass die Wechselwirkung nun das Subjekt zur entscheidenden Kraft hat werden lassen, das revolutionäre Subjekt. Dies galt es durchzusetzen auch und gerade im Kampf gegen besonders orthodoxe „Marxisten“, wie Karl Kautsky, Eduard Bernstein und andere. Solchen nämlich, die darauf pochten, dass der Gang der Revolution sich ihrer Spießbürgerphilosophie, die sie überheblicherweise mit dem Marxismus verwechselten, unter zu ordnen hatte. Da es den herrschenden Klassen nämlich gelungen war, „ihr“ Proletariat durch imperialistische „Extraprofite“ an sich zu binden, war die Sammlung der revolutionären Kräfte dort zunächst unterbrochen, war das revolutionäre Subjekt in seinem Verlauf blockiert. Der Sozialchauvinismus der reformistisch verkommenen Sozialdemokratie vor allen Dingen war es, welcher den proletarischen Klassenkampf da auf den Schlachtfeldern des Kapitals opferte.

Und dies war die Stunde eines antikolonialen, antiimperialistischen Befreiungskampfes – weltweit -, welcher von nun an die Hauptreserve für die sozialistische Revolution werden sollte, einer, die das marxsche Paradigma der Verbindung des Klassenkampfes mit einer Neuauflage von Bauernkriegen in die Praxis umsetzte.

Die Fragen, die damit anstanden, waren vor allem solche des Verhältnisses zwischen Parteiführung und Masse, Kader und Partei, Intelligenz und Proletariat, wie Proletariat und Bauern. Fragen, die sich Marx und Engels so noch nicht gestellt hatten, jedenfalls nicht so konkret.
Ja, ganz im Gegenteil. Die Partei der Kommunisten und das revolutionäre Proletariat, das waren bei Marx und Engels noch identische Begriffe. Dass das revolutionäre Subjekt etwas ganz anderes sein hätte können, als die sich in Bewegung befindende proletarische Klasse, das wäre diesen nicht in den Sinn gekommen.
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In Was Tun? beschreibt Lenin, wie die Partei neuen Typs beschaffen sein muss, und wie sich das revolutionäre Bewusstsein innerhalb einer organisierten Partei gegen die Spontaneität der Masse – dem Trade-Unionismus der Klasse – zu behaupten hat. Ganze Heerscharen von Kommunisten haben sich seitdem um diese Frage die Hirne gemartert. Und lange Zeit sah es so aus, als wäre damit die Frage des Verhältnisses von Führung und Masse für alle Zeiten geklärt.

Die Zerstörung des ehemaligen sozialistischen Lagers, ja die restlose Entartung aller sozialistischen Länder, dürfte aber klar gemacht haben, dass das letzte Wort hierzu offenbar noch nicht gesprochen war.

Den Aufbau eines Sozialismus in einem Land, und dies gar in einem relativ rückständigen, ohne eine sozialistische Intelligenz wäre natürlich ein Unding gewesen. So besehen war die leninistische Linie in dieser Frage so konsequent wie historisch konsistent. Dass aber genau von dieser Intelligenz – der „sozialistischen“ – die Restauration des Kapitals betrieben wird und eben nicht die Überleitung des Sozialismus in den Kommunismus, das schien erst Stalin ansatzweise zu begreifen. Doch so spät und zugleich falsch er das begriff, so falsch, so unsinnig, wie auch verbrecherisch, waren seine Handlungsweisen.

Doch auch schon Lenin beschwerte sich heftig über den Verrat der russischen Intelligenz, welche die junge Sowjetmacht mehr aus „Feigheit als aus Bosheit“ zu zerstören suchte. Und auch er setzte alle Hoffnung diesbezüglich in den „Instinkt“ eines Dzierzynski, jenes legendären ersten Führers eines sowjetischen Geheimdienstes (vgl. Maxim Gorki „Wie ich schreibe – Literarische Porträts – Aufsätze und Reden“ – Wladimir Iljitsch Lenin, S. 7), den da allerdings noch die frische Aura des Revolutionärs und nicht den Mief des satten Bürokraten umwehte. Und Stalin folge dieser Linie. Daher sind die stalinsche Fehler, seine Verbrechen, systemische. Ein Problem der Theorie selber.
Ich fasse das Ergebnis kurz, wohl wissend, dass ich damit das Thema nicht abgeschlossen, sondern nur neu aufgeschlossen habe – quasi zur Arbeitshypothese:

Je rückschrittlicher der Kapitalismus, desto größer auch der Abstand zwischen den Klassen, insbesondere auch der zwischen den Gebildeten und den Massen. Der Niedergang des bisherigen Sozialismus ist kein Beleg für den Niedergang des Kommunismus. Je fortgeschrittener ein Kapitalismus, desto geringer wird der Abstand zwischen Intelligenz und Masse sein, desto relativer auch die besondere Rolle einer Parteiführung und desto objektiver die Klassenbewegung in Richtung Sozialismus selber und damit desto unbedeutender der Schaden, den solch privilegierte Schichten diesbezüglich anrichten können. Dennoch: nicht der Marxismus, nicht der Leninismus, sind da gescheitert, sondern nur eine Bewegung, die sich, wenn auch quasi zwangsläufig, von der hauptsächlichen Determinante weg entwickelte. In dem Maße, wie eine solche Bewegung aber scheitert, wird sie nicht einfach vernichtet, sondern eben nur „aufgehoben“, wieder in den Gang der allgemeinen ökonomischen Gesetze zurück verfrachtet. Jedes Scheitern ist da zugleich Bestätigung der Wirkmächtigkeit der Hauptbewegung, der Determinante.

Wir erleben gerade, in den aktuellen Revolutionen, wie schnell doch die Massen lernen. Wie sie vor allem Führungen misstrauen, ganz besonders ihren eigenen. Das bildet sie rasend schnell, schneller als jede kapitalistische „Notwendigkeit“ dies bisher zustande bringen konnte. Doch bleibt eben genau diese „Notwendigkeit“ die allgemeine Linie, die Hauptdeterminante. Diese Bewegung, so rasend schnell sie auch sei, wird nie weiter kommen, als die Hauptlinie dies zulässt. Und die lautet: Dem Proletariat werden ständig neue Bildungselemente hinzu gefügt. Gleich wie und gleich wozu. Und wenn auch damit schließlich jedwede Arbeitsteilung hinfällig wird, relativiert sich im weiteren geschichtlichen Verlauf jeder „Verrat“. Doch solange die Klassenteilung selbst existiert, bleibt das bürgerliche Recht aktiv, sind Privilegien so unaufhebbar, wie nur eingrenzbar. Es wäre schon merkwürdig, wenn es anders wäre. Die Usurpierung der Macht durch besondere Spezialisten, im Kapitalismus wie im Sozialismus ist somit mitnichten die Bestätigung der Unmöglichkeit der Revolution, der Befreiung des Proletariats, sondern die Bekräftigung deren Notwendigkeit. Aufgabe des revolutionären Proletariats ist es nämlich nicht nur die eigene Klasse aufzuheben, sondern mit der Aufhebung aller Klassen, zugleich die Voraussetzungen der eigenen Existenzbedingungen.

Ist die Partei damit obsolet? Ist die Herausbildung einer revolutionären Intelligenz damit von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Nein, nicht wirklich! Doch Führung wie Intelligenz müssen sich vorsehen. Sie können zukünftig schneller obsolet sein als sie geschaffen worden sind. Es werden blutige Gemetzel folgen, auch in Bezug auf die Köpfe der führenden Köpfe. Denn auch diese sind oft nichts anderes als die Auswüchse der alten Gesellschaft – wenn auch dann gewendete. Dass die Revolution ihre Kinder frisst, ist somit eine Bedingung dieser Revolution, kein Betriebsunfall.

Diesbezüglich wird ein stalinscher Terror, der ja ein „roter“, einer der Massen sein wollte, ein leninistischer nämlich, und der sich somit letztlich gegen die Massen selber richtete, ja richten musste, definitiv ab jetzt erst zum „Massenterror“. In dem Maße nämlich, indem die Massen führerlos agieren.

Eine sozialistische Klassengesellschaft, in der die proletarische Klasse von der proletarischen Führung – die ja in Wahrheit eine Führung durch die bürgerliche Intelligenz war und ist – ausgebeutet wird, kann es wohl noch geben, dennoch wird sich dann eine solche schnell blamieren. Sozialistische Revolutionen werden so nicht unwahrscheinlich, aber auch nicht wahrscheinlicher, zumal der Wegfall einer revolutionären Führung vor allem den Massen zunächst einen hohen Blutzoll abverlangt. Dennoch aber beschleunigt sich ein gewisser objektiver revolutionärer Prozess. Denn so wie die kapitalistische Politik sich den Massen gegenüber stets opportunistisch verhält, bzw. ihre Führer zu korrumpieren sucht, bringt sie stets auch die schlechtesten Eigenschaften der Massen hervor. Und in dem das geschieht, setzt sich die Masse gerade in ihrem Verhältnis zur bürgerlichen Politik wiederum durch. Und in dem Maße wird bürgerliche Politik wiederum noch unberechenbarer, noch krisenanfälliger. Eben genau diese Politik kehrt das Verhältnis von Führung und Masse nämlich um, womit objektiv dem Sozialismus, d.h. der Aufhebung der Klassenteilung, in die Hände gearbeitet wird.

Wie auch immer. So wie die Gesellschaft sich definitiv in zwei Klassen teilt – in Bourgeoisie und Proletariat, in Kapital und Lohnarbeit nämlich -, dort wird auch die Sonderrolle einer „sozialistischen Intelligenz“ permanent relativiert, gar völlig obsolet. So hinfällig, wie bereits jetzt schon die Arbeitsteilung zwischen Kopf- und Handarbeit im Zeitalter einer 3. Industriellen Revolution.

Und nur soweit die Wissenschaft selber noch eine Sonderstellung erheischt, bleibt diese auch in Bezug auf die Notwendigkeit der Erstellung der revolutionären Theorie durch eine besondere wissenschaftliche Intelligenz erhalten – als der letzten Domäne der Partei gegenüber der Klasse vielleicht. Jenseits hiervon, wird die Theorie bereits in der Praxis aufgehoben, die Führung von der Masse geführt, wie auch die Partei zum Dienstleistungsbetrieb der Klasse erhoben.

Und so erfüllt sich womöglich die Engelsche „Prophezeiung“ in Bezug auch auf die objektive Bewegung, welche sich nämlich in letzter Instanz durchsetzt, auf gar merkwürdige Weise – als Kapriole der revolutionären Bewegung. Denn es ist dies die Bewegung zweier ungleicher Kräfte, wo die schwächere Kraft, sich trotz gigantischer Anstrengung, nur dort behauptet, wo die stärkere dem bedarf. Doch geschieht solches nicht als quasi a-subjektive, ergo: rein objektive Bewegung, sondern als Bewegung der Massen selber, als deren Freiheit in der Notwendigkeit, wie als der Notwendigkeit zur Freiheit.

faz.net/blogs/deus/archive/2011/01/30/aegypten-abgeklemmt-aber-nicht-unverkabelt

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