Zyniker und Opportunist

Zyniker und Opportunist
Eine ketzerische Ansicht von einem Marxisten, aber ich denke, dass die Prostitution im Sozialismus nicht aufgehört hatte, aber sie wurde entweder verstaatlicht oder anderen Zwecken zugeführt, für beides waren dann wohl die Staatssicherheitsorgane direkt zuständig. Am Anfang mag das noch frei von Doppelbödigkeit gewesen sein.

Allerdings, die sexuelle Freizügigkeit war im sowjetischen Sozialismus lange Zeit sprichwörtlich. Es ging natürlich um das Geschäft mit dem Sex; das, solange der Markt, sprich: die Marktwirtschaft, nicht völlig abgeschafft war, auch nicht so einfach verschwinden konnte.

Die Auseinandersetzung um diese Frage ging verloren, spätestens dann als unter Stalin die „sozialistische Ehe“ propagiert wurde (als ungeahnte oder doch schon geahnte Vorbereitung auf den „Vaterländischen Krieg“ – es ging nicht mal um die Produktion von Soldaten, sondern um die Haltung gegenüber dem Staat, nämlich eine sich unterordnenden), womit das Patriarchat einen entscheidenden Sieg verbuchen konnte. Nicht der Sozialismus gewann, aber der Kapitalismus errang seinen ersten großen Etappensieg, ganz ohne Waffen. Die Konsolidierung des Sozialismus ging doch wohl nur als Zugeständnis an das Kleinbürgertum, der „5. Kolonne des Kapitals“. Hier wurde nicht nur eine Schlacht verloren, sondern ein ganzer Krieg, allerdings dann erst nach dem Ende des „Großen Vaterländischen“. Den Faschismus konnte man noch besiegen, den Kapitalismus nicht mehr.

Ehrenburg war ein Zyniker und Opportunist (ein wenig Rassist war er auch, hätte er doch gerne alle Deutsche nach dem Krieg sterilisiert gesehen – einem Juden ein verständliches Anliegen; aber er war Marxist!), er lebte mit dem Regime sehr gut und erst recht dagegen. Ich frage mich daher, was uns das Zitat in diesem Zusammenhang wohl sagen soll. Er amüsiert sich hier über ein Regime, das er im Großen und Ganzen mit zu verantworten hat. Unter Stalin duckten sie sich alle, erst nach seinem Tod, wagte der Schwanz mit dem Hund zu wedeln:
Es lebe der intellektuelle Zyniker oder/und: es lebe der bourgeoise Opportunist?!

Der süße Geschmack und die Pockennarben der alten Gesellschaft
@Don Alphonso: Also ich kenne die Umstände dieses Zitates, ich kenne das Buch und ich glaube zu wissen, was seine damit verbundene Parole war: „bewusstes Denken“ forderte er immer wieder, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er braucht das „bewusste Denken“. Nur was sagt uns das „bewusste“ Denken, dass es auch ein unbewusstes gibt? Möglicherweise war das keine Banalität, vor dem Hintergrund der russischen Geschichte, im Kontext Jahrhunderter zaristischer und klerikaler Unterdrückung. Eine Unterdrückung, die es den Völkern dieses Riesenreiches so schwer gemacht hat, klar zu denken, frei zu denken. Das wäre dann auch die Formulierung, die ich dem entgegen zu setzen hätte: frei denken. Denn nur ein solches „freies Denken“, das es natürlich auch gab, führte dieses Russland, aus dem Morast des Mittelalters, an die Spitze der Geschichte, ermöglichte ihm die sozialistische Revolution. Und hier beginnt das Problem konkret zu werden, offenbaren gewisse Phrasen ihren verborgenen Sinn, ihre eigentliche Botschaft, allzu oft ihre konterrevolutionäre Absicht. Nehmen wir Doktor Schiwago von Boris Pasternak, einem intimen Freund von Ehrenburg. Die Kritik an den sowjetischen Aufsteigern und neuen Bürokraten war sicherlich berechtigt; aber war es berechtigt, die zaristische Kultur zu beweinen, die da gerade untergegangen war? Und war es nicht so, dass auch diese neuen Aufsteiger eben genau dieser zaristischen Kultur geschuldet waren? – Der Vorherrschaft dieser Kultur! Einer Kultur, die es einem angesagt ließ, sich anzupassen, korrupt zu sein, mit den Wölfen zu heulen. Das Volk zu reiten.

Was den sowjetischen Intellektuellen der damaligen Zeit fehlte, insbesondere den Literaten, war tatsächlich ein „bewusstes“, nämlich sozialistisches Denken. Sonst hätten Sie keine Schwierigkeiten gehabt, die Fehler der neuen Zeit nicht nur zu bemängeln – das war ihnen ein leichtes -, sondern diese bis in die Zeit ihrer eigenen Vorfahren, ja ihrer eigenen Klasse, ihrer aristokratischen und bürgerlichen Kultur hinein zu verfolgen. – Denn waren sie nicht alle Aufsteiger – Emporkömmlinge, irgendwann einmal? Den vorherrschenden Opportunismus (die Bürokratie) zu entlarven, ist eine Sache, dessen Spuren zu folgen, eine andere. Die sozialistische Gesellschaft ist voll der Muttermale der alten Gesellschaften, ja sie ist übersät mit den Blatternarben der Klassengesellschaft(en). Und war nicht der „Pockennarbige“, der „Stählerne“, jener Stalin, die dazu passende Gestalt? Auch äußerlich schon unverkennbar, gezeichnet von den Krankheiten und Brutalitäten der alten Gesellschaft, eingemeißelt in seinem Gesicht, in seiner oft perversen Doppelzüngigkeit und Hinterhältigkeit und Grausamkeit, und somit unfähig in sich und an sich ein humaneres Bild vom Menschen abzubilden; denn dieses passte doch noch gar nicht zu der Gesellschaft, auch nicht zu der sozialistischen. Für „Katzen“ soll er sie gehalten haben, die Russen (angeblich soll er bei seinem Ableben gejammert haben: was machen die nur ohne mich, die sind doch wie Katzen?). Was für ein Bild ? – Katzenmenschen!

Die offene Kritik am Sozialismus, an den Blatternarben der alten Gesellschaft, die hat gefehlt, anstatt jener devoten Beschönigung der Hässlichkeit von Narben. Dann wäre auch ein Stalin weder möglich geworden, noch gar verherrlicht, ja ganz sicher nicht „notwendig“ gewesen. So war er die Peitsche auf die Zuckerlis der alten Gewohnheiten aus uralten Zeiten, auf den verdorbenen Geschmack. Auch ein Ehrenburg war dieser Aufgabe nicht gewachsen, auch er war dem Süßstoff seiner Klasse noch verfallen.

@Don Alphonso: „ein Unglück, eine der verpassten Urchancen des 20. Jahrhunderts“
Da sind wir uns wohl einig. Und doch ist es wichtig, die Gründe auch in der Rolle der Intelligenz zu suchen. Die stalinschen Massaker sind nicht auf eine paranoide (wegen mir auch „asiatische“, Stichwort: „asiatischer Despotismus“ – Ernst Jünger / Der gordische Knoten) Struktur zu reduzieren!

Der Hölle entkommt man nicht, indem man sich nach oben durchkämpft, man muss sie komplett durchleben, in sie richtig tief einsteigen, die dort Harrenden abholen, mit nach draußen (nicht nach oben!). Denn „oben“ bilden sich neue Höllen, neue Hierarchien, die ein „unten“ bedingen, wenn vielleicht auch nur mit umgepolten Entitäten. Stalin kannte wohl die Dantesche Hölle nicht, er war vermutlich nicht lange genug Schüler der Jesuiten, vor allem aber beherrschte er nicht die Dialektik (was man von Lenin definitiv nicht sagen kann). Ihm schien „Hammer oder Amboss sein“ Erklärung genug. Er verstand nicht, dass das nur für den Kapitalismus – für die „Unterklasse“ gilt, für die „Herrenklasse“, die die Diktatur des Proletariats ausmachen soll, konnte das nicht mehr gelten; denn es fragt sich sofort: wer wird der Amboss sein? Die nun plebejisch gewendete Bourgeoisie neben dem immer noch plebejischen Kleinbürgertum, oder nicht doch wieder ein plebejisches Proletariat, das sich nun einer sozialistischen Aristokratie (den neuen Zaren) gegenüber sieht? Einer jenen, die letztlich klassenmäßig die sog. Sozialistische Intelligenz beinhaltete. Eine Intelligenz, die nahtlos von der alten feudalen Aristokratie in den Sozialismus wechselte. Es schien so, als hätte sich für das Proletariat nichts geändert! Stalin wusste das. Er war skrupellos genug, sie zu ködern, mit ihrem Geschmack, dem verzuckerten. Mit der Architektur finden wir das im stalinschen Zuckerguss wieder, dem Klebstoff, der die Intelligenz, das Kleinbürgertum einfangen sollte. Aber es nützte nichts; es waren zu viele: Er schuf damit nur den Stil seiner Zeit; er selbst schien diesem Geschmack verfallen: einem zuckersüßen, kleinbürgerlichen, denn terroristischen, grässlich realen, eben surrealen Sozialismus. Er verzuckerte damit den Geschmack des Proletariats, er wickelte es in Zuckerwatte – dieses Proletariat -, wodurch es nicht bemerken konnte, welche Klasse da am Werk war – nicht die seinige jedenfalls. Die Intelligenz nistete sich in der Partei ein und entging so den wütenden Pendelschlägen des „Stählernen“, sie opferte hin und wieder Mitglieder ihrer Klasse und sicherte sich – instinktsicher solchermaßen – ihr Überleben. Mal spielte sie Hammer, mal Amboss und bediente damit Stalins Dialektikverständnis, erweckte den Anschein von sozialistischer Regelmäßigkeit, von Klassenkampf im Sozialismus. Zugleich bildete sie unter sich eine neue/alte Bürokratie aus.

Vom kapitalistischen Realismus zu einem sozialistischen terroristischen Surrealismus, das war diese Wende in der Sprache der Kunst. Surreal war dieser Realismus eben wegen dessen Verkennungs- und Verblendungszusammenhängen, die doch das Gegenteil zu imaginieren suchten; nicht wegen der Formen, die waren gar naturalistisch, plump die Tatsachen, die wahre Entwicklung, ignorierend.
Und die Bourgeoisie? – Die lauerte, denn sie hoffte auf die Intelligenz, deren Durchhaltevermögen, deren Elastizität, wissend, dass diese Intelligenz nie ganz aufgehört hat, zu ihrer Klasse zu gehören, nie den Traum aufgegeben hat, eine Aristokratie sein zu wollen, die wahre herrschende Klasse.
Die Bauern wurden vernichtet, die Bourgeoisie wird’s überleben, ein Teil der Intelligenz wurde ebenso vernichtet, auch das konnte sie überleben, und das Proletariat blieb unten, das war letztlich der Garant ihres Überlebens.
Das Proletariat blieb nämlich der Amboss. Das ist das Wesen dieses Trauerspiels.

faz.net/blogs/stuetzen/archive/2009/04/24/kleiner-ausreisefuehrer-fuer-gehirnausfliessende

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5 Trackbacks

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    […] angehäuftem Ballast, mit der mehr oder weniger vorhandenen Fähigkeit wie Mensch zu handeln. Stalin wie Trotzki waren nicht die „Teufel“, sondern dessen vollkommnes Werkzeug, die […]

  • Von Nette Köder am 6. Mai 2010 um 18:10 Uhr veröffentlicht

    […] Den Massen vertrauen versus ein Volk wie „Katzen” Oh ja, Massen werden manipuliert, nur eines scheint nicht zu klappen, sie zu ersetzen. Der Leviathan schreckt sie so wenig wie ein pseudosozialistischer Obrigkeitsstaat, also bleibt ihnen nur übrig die Geschichte zu machen – letztlich, und damit die Geschichte oft wendend. Gegen die Massen lässt sich auf Dauer keine Geschichte machen. Ein Beispiel dafür, wenn auch aus linker Perspektive ein sicherlich nicht besonders elegantes (für einen Linken ein paradoxes Beispiel), ist die Entwicklung in der ehemaligen DDR. Auch wenn die Massen dort wie hier manipuliert wurden, unterdrückt worden – dort -, geködert – hier, durch eines Erhards Wirtschaftswunderland -, zeigte sich doch gerade hierbei die Geschichtsoffenheit. Gegen die Massen muss man sich nicht stemmen, man muss sie nur verstehen lernen, darf ihnen aber nicht blind folgen. Letztlich muss man ihnen vertrauen. Wer eine andere Politik machen will, der landet dort, wo sich ein Herr Schmidt befindet. Er misstraut ihnen, er faselt von „Verführbarkeit“, nur um die Verführer zu schützen. Hierbei ähneln sich alle Machthaber: auch ein Stalin soll noch im Todeskampf bzgl. der Russen orakelt haben, dass sie doch ohne ihn nicht leben könnten, seien sie doch wie „Katzen“. […]

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