Propagandablasen statt Diskurse; oder auch: Im Reich des Phantastischen statt Wirklichen
Habe gerade die Wiederholung der Sendung mit Lanz gesehen, in der auch der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer erklären durfte, warum er kein Rassist ist, wenn er dennoch rassistisch argumentiert, und sich deswegen völlig zu Unrecht von seinem Parteikollegen Trittin mit Erika Steinbach verglichen sieht. Und dann lese ich jetzt gerade wie sich ein anderer Boris, nämlich Boris Reitschuster, darüber aufregt, dass Studenten den rassistischen Polizeigewerkschaftsführer Wendt am Reden hindern. Und parallel hierzu verfolge ich mit Interesse aber noch mehr Besorgnis die Propagandablasen innerhalb derer aktuell überhaupt Diskurse geführt werden. Der „kalte Krieg“ erscheint dagegen als eine geradezu liebevolle Umarmung. Was sie witzigerweise zum Teil ja auch waren, wofür der oft als Satire präsentierte Kuss des Breschnew nicht nur als irritierende Symbolik zu verstehen ist. Und da wären wir auch beim Thema, nämlich der Ambivalenzen – Zizek würde es wahrscheinlich Lücken nennen – in unseren Weltbildern.
Was erkläre ich einem Boris Palmer, wenn dieser via Twitter ein Bild von schwarzfahrenden arabischen Jugendlichen zeigt und meint damit ganz harmlos auf die Zerstörung seines Weltbildes hingewiesen zu haben? Denn was ist das für eine Welt, wo die Einen sich das nehmen, was den Anderen verwehrt wird? Und dann auch noch Nordafrikaner! ? Er begreift nicht, dass er da nicht nur ein rassistisches Weltbild zum Besten gibt, sondern auch, und das ist die Erklärung für seinen Rassismus, ein rein affirmatives, nämlich bürgerliches. Er blendet aus, was vielleicht auch seine Partei, in ihren jungen und wilden Jahren noch gefordert hat, nämlich die Teilhabe für alle, und das heißt hier: kostenloser Nahverkehr. Diese Forderung war und bleibt berechtigt, ob der Not der ausgebeuteten Massen. Durch das Schwarzfahren werden diese Menschen aber kriminalisiert. Doch diesen Jugendlichen hier scheint das egal zu sein, sind sie eh schon „kriminell“. Und das zerstört sein Weltbild. Er unterschlägt die Notwendigkeit der Sozialkritik zugunsten eines spießbürgerlichen „Gerechtigkeitsdenkens“. Sollen diese Araber doch wenigstens genau so hart bestraft werden wie die Anderen! Das ist bürgerliche Gerechtigkeit, und so ganz nebenbei – Rassismus.
Und auch das Demokratieverständnis jenes anderen Boris, nämlich Boris Reitschusters scheint nicht weit weg von dieser Spießbürgermoral. Im Namen der Freiheit soll er hetzen dürfen – gegen die Freiheit, dieser Rainer Wendt. Auch die Nazis sollen ja geduldet sein, wo sie sich im rechtlichen Bereich bewegen. Dass sie das nicht tun, ist dem Bürger dann nur noch reine Peinlichkeit. Und das ist das Maximum an Freiheitsempfinden eines Liberalen – die formale Freiheit. Doch auch und gerade der Kampf um die Freiheit ist nicht klassenneutral zu verstehen. Im marxistischen Lager gibt es zwei Versionen von Freiheit, die sich, wie es scheint, zu widersprechen. Einmal das marxsche Diktum, dass Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist, und dann der berühmte Ausspruch Rosa Luxemburgs, dass die Freiheit immer die des Anderen ist. Das ist ein Widerspruch, aber nur weil die verschiedenen Ebenen der Gültigkeit nicht gesehen werden. Marx bewegt sich im Bereich des objektiven, letztlich ökonomischen Geschehens. Hier gibt es keinen Zweifel. Rosa Luxemburg hingegen auf dem politisch-ethischen-juristischen Feld. Und hier würde diese Formulierung auch angreifbar sein, wenn man ihre Klassenbedingtheit unterschlägt. Im Kampf der Klassen hat eine solche Losung nichts zu suchen. Die modernen Klassenfeinde sind keine Ritter. Sie selber durfte das erfahren. Wurde sie doch schonungslos vom Klassenfeind gemeuchelt. Doch im innerparteilichen Kampf unter Umständen, vorausgesetzt es geht nicht um Prinzipien. Ja, und hier hätte man vielleicht mehr auf sie hören sollen. Einen Wendt aus einer Uni-Vorlesung zu vertreiben, ist für mich dasselbe wie einen Höcke aus einer Demonstration der Siemensarbeiter. Beides so notwendig wie gerecht. Gerade im Namen der Freiheit und der Demokratie.
Und wenn wir schon beim Vertreiben sind. Dieser Tage wurde Ken Jebsen (KenFM) von einem Linken Senator aus dem Berliner „Babylon“ vertrieben. Zumindest vorerst. War das richtig, oder völlig falsch? Diese Frage zu beantworten, würde nicht nur zu viel Raum einnehmen (insofern lass ich sie jetzt mal offen, an anderer Stelle, nämlich via Facebook, habe ich sie eh beantwortet, und da sage unterm Strich: es kommt immer darauf an, mit welchen Motiven, Argumenten und Methoden), sondern vom Thema ablenken. Für die Einen steht KenFM für ein antisemitischen Verschwörungstheoretiker, für die Anderen für einen unbeugsamen Vorkämpfer der unterdrückten und ausgebeuteten Massen.
Zunächst ist es mal wichtig zu sagen, das er letzteres nicht ist. Er ist definitiv kein Marxist und damit für mich mitnichten Teil der Avantgarde des Proletariats. Ich formuliere das mal extra so geschwollen, damit klar wird, worum es hier geht. Im Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital gibt es nur eine revolutionäre Theorie, und das ist der wissenschaftliche Sozialismus. Jeder außerhalb dieser Theorie gehört per definitionem nicht zur Avantgarde im sozialistischen Kampf. Somit ist er automatisch Teil des bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Lagers, damit Teil deren Spielarten von „Sozialismus“ wie sie Marx und Engels im „Manifest“ beschrieben haben. Feinde des Marxismus. Dass er darüber hinaus Antisemit ist, ist auch mit einem klaren Ja zu beantworten. Denn in der bürgerlichen Erklärung dessen was Sozialismus ist, ist der Antisemitismus sozusagen der sich anbietende Ersatz für eine revolutionäre Theorie. Und ja, er ist auch per se ein Verschwörungstheoretiker.
Auch das ergibt sich aus dem Selbstverständnis des bürgerlichen Weltbildes. Ein Weltbild, das die Geschichte von herausragenden Führern gemacht sieht, ein Weltbild, das damit zwangsläufig verschwörungstheoretisch argumentiert. Doch an der Stelle wird’s jetzt leicht kompliziert. Denn die Marxisten leugnen nicht die Existenz von Verschwörungen. Im Gegenteil, die Geschichte der Klassenkämpfe ist voll der Beispiele. Das bekannteste ist vielleicht der Tyrannenmord des Brutus und seiner Mitverschwörer an Cäsar, oder der Judaskuss bei den Christen. Auch gegen Nero sehen manche Geschichtsschreiber eine Verschwörung am Werk, die weit über die des Pisa geht (siehe Masimo Finis „Nero – 2000 Jahre Verleumdung“, also eine „Verschwörung“, die bis in unsere Tage anhält). Wie auch immer. Verschwörungen gibt es, gab es seit es die Klassengesellschaft gibt. Doch sie bestimmen nicht den Lauf der Dinge. Das zumindest ist die marxistische Sicht. Die Massen machen die Geschichte, welche wiederum ökonomische Verhältnisse hervorbringt, die die Massen dann wiederum lenken. Die Verschwörungen haben da ihren Platz, wie all die anderen Verbrechen, die Folge und Konsequenz der Klassengesellschaft sind. Und es ist überhaupt keine Frage, dass sich die reaktionären Klassen, welche sich ihrem Untergang entgegengestellt sehen, auch mittels Verschwörungen diesen Klassenkampf zu manipulieren suchen. Natürlich sind Verschwörungen schwer nachzuweisen, doch sie grundsätzlich zu leugnen, bedeutet letztendlich affirmativ die Klasseninteressen der Ausbeuter zu übernehmen. So ist das Wirken des Natonetzwerkes „Gladio“ so wenig zu leugnen, wie die Existenz eines sog. Tiefen Staates.
Und die investigativen Autoren da unisono als Verschwörungstheoretiker zu verleumden, ist so aberwitzig wie so manche Verschwörungstheorie selbst. Wer so argumentiert, ist ebenso wenig Teil des marxistischen Diskurses wie ein Ken Jebsen.
All diese Leute wähnen sich vermutlich im Besitz des gesunden Menschenverstandes und des richtigen Weltbildes selbstredend, bzw. hier in der Gewissheit darüber was Demokratie ist (oder Sozialismus – in linken Diskursen). Nicht nur nicht, dass sie alle keine Marxisten sind, sie bewegen sich nicht mal auf der Höhe der hegelschen Dialektik. In „Phänomenologie des Geistes“ behandelt Hegel sehr ausführlich die Rolle und die Grenzen des „gesunden Menschenverstandes“ (phänomenologisches Bewusstsein, bei ihm). Es ist dies eine unbedingt notwendige Stufe der Erkenntnis, die unterste Stufe. Ohne diese könnten wir uns nicht orientieren im natürlichen wie sozialen Raum. Marx führt diese Kritik dann fort, stellt die hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße, und formuliert seine Ideologiekritik vom Standpunkt der Kritik der politischen Ökonomie. Es ist ein „Phantasma“, ein „notwendig falsches Bewusstsein“. Notwendig auch im revolutionären Klassenkampf, doch dort am deutlichsten an seine Grenzen stoßend. Daher die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Sozialismus, der Kritik, die alles einer Klassenanalyse unterzieht. Denn die wissenschaftliche Erkenntnis ist gebunden an der Teilhabe an diesem revolutionären Kampf. Und die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (11. Feuerbachthese)
Jede Kritik, die die Klassenanalyse, die Dialektik und die Praxis als das Kriterium der Wahrheit unterschlägt, produziert lediglich phänomenologisches Bewusstsein und damit per se Verschwörungstheorie statt revolutionäre Theorie, und bewegt sich, wenn’s kompliziert wird, nicht im Reich der Freiheit noch Notwendigkeit, sondern im Reich des Phantastischen statt Wirklichen.