Zum „richtigen“ Klassenstandpunkt

Zum „richtigen“ Klassenstandpunkt
@Marco Settembrini di Novetre
Na schön, Sie haben mich geködert. Dennoch: einen Klassenstandpunkt zu exakt dieser Frage habe ich (noch) nicht. Bzw., eigentlich bin ich da nicht der richtige Antwortgeber zu. Ich empfehle die Anfrage der Piratenpartei weiterzuleiten. Und vielleicht empfiehlt sich zuvor ein Blick in folgendes Blog (ein wirklich, auch unter semantisch-ästhetischen Gesichtspunkten, geschmackvolles Blog, doch will der Verfasser wohl unter sich bleiben, als eine Art Purist unter den Bloggern, finde ich doch nirgendwo den Zugang zur Kommentarfunktion!)

Was mich an dieser Geschichte aber grundsätzlich interessiert, habe ich dort formuliert. Es geht mir dort wie hier um die Zukunft des Subjekts. Wo bleibt die „Illusion der Illusion“, wenn das Subjekt nicht einmal mehr seinem Phantasma zu folgen vermag? Eine virtuelle Existenz, war diese doch schon immer die Übersetzung für eine sog. reale Subsistenz (welche sich das Individuum eben fälschlich als Existenz imaginierte), und welche exakt das ist, was wir unter „freiem Willen“, „Aufgeklärtheit“, oder gar „politischer Identität“ subsumieren, wird hier gewissermaßen noch weiter reduziert, bzw. gar pervertiert. Was passiert denn mit diesem Subjekt, das sich im Internet nicht einmal mehr als Konsumidioten entlarvt sehen darf, denn als Konsumangebot? Ganz ehrlich, und das soll jetzt wirklich nicht die Falschen beleidigen: Ich sehe keinen Unterschied zwischen gewissen Plattformen aus dem horizontalen Gewerbe und Facebook zum Beispiel.
Dort wir hier bieten wir uns an. Als unser eigenes Produkt. Sind nicht Konsument und schon gar nicht Produzent (es sei denn von der Website).

So die Fragen zu stellen, führt vielleicht zum „richtigen“ Klassenstandpunkt.

@Oliver-August Lützenich:
Zum Thema „Entropie“ empfehle ich folgende Lektüre (siehe auch meine diversen Aufarbeitungen unter dem Stichwort Entropie, wie Gott wird den Menschen niemals einholen!). Ich kenne keine bessere Betrachtung des Themas unter historisch-materialistischer Perspektive. (Vielleicht könnte man monieren, dass die dialektische Beziehung zwischen bürgerlicher Wissenschaft und Klassenkampf etwas verkürzt daherkommt, dennoch macht es gerade das so interessant.)

Selbstgewählter Mangel an Selbstachtung
@Marco Settembrini di Novetre
„Es muss sich auf FB niemand feilbieten, um die Miete, das Essen und den Arzt zu bezahlen.“ Sie haben Recht. Doch wie erbärmlich dann, wenn man sich ganz und gar eben ohne diese Not „prostituiert“. Bzgl. des Elends der Prostituierten habe ich eine etwas differenziertere Ansicht. Nicht weil ich das Elend verniedlichen will, sondern weil ich das Kapital nicht verniedlichen möchte. Die Prostitution mag wohl oft auch dem nackten Elend entwachsen, doch nicht weniger dem kapitalistischem Kalkül – auch auf Seiten der Damen. Und gerade darin liegt ja gerade der Witz: Nicht die Not allein macht solches, sondern die „Entfremdung“ (ich weiß, ein inzwischen furchtbar missbrauchter Begriff) des Subjekts. Und natürlich nur diesbezüglich ziehe ich Parallelen. Ich habe nach wie vor großen Respekt auch und gerade vor Frauen, die ob ihrer Notlage zu dieser Maßnahme gezwungen sind. Und es liegt mir jedwede doppelmoralische Kritik fern. Ob sie aus dieser Not herauskommen, bzw. ob sie eine Alternative sehen/haben oder nicht, das ist nicht alleine ihre Sache, sondern eine gesellschaftliche. Und da geht es definitiv eben nicht nur um die nackte Not, sondern auch um die Not der Nacktheit, um die Not einer völlig verkorksten Libido. Um Kritik am Patriarchat, um die Aufhebung der Klassenspaltung und die Unterdrückung der Frau. Um die Befreiung auch des Mannes, nämlich von seinem selbstgewählten Mangel an Selbstachtung.

Wo der Vergleich hinkt
Es tut mir leid, wenn Sie das so auffassen. Habe ich das „prostituiert“ doch ganz bewusst in Anführungszeichen gesetzt, auch um deutlich zu machen, dass der Vergleich nicht 1: 1 gemeint sein kann. Dennoch muss es möglich sein solche Vergleiche unter einem bestimmten Aspekt zu machen. Hier geht es um die mehr oder weniger philosophische Frage nach der Rolle des Subjekts. Nur um das klarzustellen. Auch ich habe einen Facebookauftritt, scheue also nicht den (Selbst-)Vorwurf, dass ich mich prostituiere. Doch ist mir halt ziemlich schnell klar geworden, dass dieses Facebook entweder völlig überflüssig ist, oder eben nur dazu dient, dass sich die Leute dort als Konsumgut vorstellen. Und genau daran übe ich Kritik.

Wo das Subjekt der Mehrwert ist
Zunächst noch mal ganz grundsätzlich um jedes Missverständnis auszuschließen: Mir geht es um die Darstellung/die Kritik des Übergangs eines vormals produktiven Subjekts, schließlich über ein konsumtives dann zu jenem berühmt-berüchtigten „autokannibalistischen“ (ich zitiere hier den von mir ansonsten sehr kritisierten Robert Kurz).

Wir machen uns auf Facebook zur Ware, indem wir uns im Rahmen eines ansonsten schon bekannten Exhibitionismus feilbieten. In aller Regel steht dort nicht die Vermittlung einer Sache/eines Anliegens/eines externen Produkts im Vordergrund, sondern die Selbstdarstellung. Und es ist sicherlich nicht ein reiner Treppenwitz, dass Facebook mittlerweile auch von sog. „Professionellen“ genutzt wird. Da bieten sich Frauen als Freunde an, denen man – gottseidank, möchte man beinahe sagen – sofort ansieht, dass sie lediglich ihre Dienste anbieten. Der Tag dürfte nicht mehr weit sein, wo das nicht mehr so offenkundig sein wird. Wo sog. „Freunde“, „wahre Freunde“ in Wahrheit „Dienstleister“ sind.

Doch die eigentlichen Professionellen hierbei sind die Konstrukteure dieser Plattform. So fühle ich mich zum Beispiel von diesen gezielt geködert, nämlich dahingehend, dass ich noch mehr von mir preisgebe. Dieses „Preisgeben“ ist es, was mich intuitiv an die Form der Prostitution denken lässt. Hier gibt man sich preis, bietet sich an, ist weniger Subjekt als Objekt eines Geschehens. Eine solche Preisgabe ist definitiv nur auf einem Feld „zulässig“, auf dem intimen nämlich. Der von mir geliebten Person, der mich liebenden, gebe ich mich preis – partiell natürlich nur, und faktisch eigentlich nur während besonders intimer Momente. Ansonsten sollte gegenseitiges Vertrauen dominieren und eben nicht Preisgabe.

Facebook lädt dazu ein, diese Preisgabe öffentlich zu machen, zeitlich wie räumlich uneingeschränkt und quasi damit auch bedingungslos. Denn das Gegenüber ist zu nichts verpflichtet. Es bindet keine intime Beziehung, keine Notwendigkeit Vertrauen zu bewahren.

Und genau jene öffentlich gemachte Intimität ist das Wesen auch der Prostitution (wobei in der Prostitution das Vertrauen, Teil des Vertrages ist, einen solchen Vertrag gibt es auf Facebook nicht). Die Swingerclubs wären recht eigentlich das entsprechende Gegenüber. Facebook macht aus einem spezifischen sozialen Leben einen öffentlichen Swingerclub. Der intime Raum ist die unbedingte Bedingung dafür, dass wir was preisgeben, was uns normalerweise die Selbstachtung verbietet. Und um genau diese Grenze zu überschreiten, bietet sich Facebook an. Wieso muss man mir über Facebook mitteilen, wo man gerade ist? Natürlich sehe ich da eine vordergründige Bedingung für. Nämlich, dass das virtuelle Leben, das mit dem Netz, eben genau diese Bestimmung obsolet werden lässt. Dennoch schlüpft da Facebook nicht einfach nur in eine Lücke. Facebook macht die Lücke erst richtig evident. Bietet sich da als Lösung an, wo es Teil des Problems ist.

Facebook antizipiert das Subjekt der „Zukunft“, das sich autokannibalisierende, das sich als Konsumgut anbietende. Es schafft die Plattform für ein Subjekt, das genau genommen keinen Mehrwert mehr schafft, sondern selber dieser Mehrwert ist.

So wäre selbst, wenn ich über Facebook meine geistigen Produkte anbieten würde, so wie hier jetzt in diesem Blog, eben nicht dieses Produkt das Thema. Meine Selbstdarstellung wäre es, meine Selbstvermarktung, meine diesbezügliche Preisgabe. Und ließe ich mich darauf ein, dann bin ich mir ganz sicher, wird es recht bald Fragen geben, nach dem Grund dieser Preisgabe, kämen Fragen, die nach mehr Preisgabe verlangten. Und dass es da Leute gibt, die es vermutlich gar nicht interessiert, was ich da schreibe, wäre das keine Widerlegung, sondern die Bestätigung dessen, was ich da behaupte. Diese Leute interessieren sich definitiv nur für „mich“. Aber nicht für ein „Mich“, das „mein Selbst“ meint, bzw. das Produkt dieses Selbst (denn einzig öffentlicher Ausdruck, von mir öffentlich preisgegebener, eines jenen Selbst, wäre ja nicht ein sog. „Ich“, und auch nicht ein „Mich“, denn dieses „Mich“ gehört ausschließlich mir, sondern ein „Mein“; und auch wenn man von Letzterem etwas erwerben kann, erwirbt man eben nicht „mich“, oder etwas von „mir“, im Sinne von „mich“). Nein, diese „Freunde“ suchen genau das zu erwerben, das bis dato selbst und gerade im Kapitalismus noch verboten war zu erwerben (Lohnarbeit ist die Abstraktion von Sklaverei, nicht deren Gegenstück). Mein mich, mein ich, und eben nicht mein mein. Und damit suchen sie „mich“ zu konsumieren und eben nicht mehr mein Produkt.

Diese Grenze überschreiten wir natürlich auch an anderen Orten. Welcher Geistesarbeiter möchte von sich behaupten, dass er sich nicht in erster Linie zu vermarkten sucht (zumindest wenn das sein Broterwerb ist) und dann erst sein Produkt? Zeigt sich doch genau darin das Wesen der Marktwirtschaft. (Und das scheint mir auch der Grund für zu sein, warum besonders den Geistesarbeitern die Problematik Facebook nicht klar werden möchte, ist ihnen diese doch zu vertraut.) Das Produkt ist Nebenprodukt, das eigentliche Produkt ist die Ware Geld. Doch greift Facebook in einen Prozess ein, der darüber noch hinaus wächst. Denn jetzt ist nicht die Ware Geld die eigentliche Ware, sondern das Subjekt als Ware – als „Geld“ – der Wert, der Mehrwert, eben das Produkt.

Die evolutionäre Antwort
@Marco Settembrini di Novetre/Lützenich
Subjekt als Konsumgut: Es geht um den „Menschen“ (Achtung: Mensch nichtgleich Subjekt!), in ganzen Stücken, wie um dessen Teile. War es nicht Schirrmacher, der das Hirn zum wichtigsten Rohstoff erklärte (er sagte es anders, aber ich spitze es so zu). Ich weiß noch nicht, wohin das führt. Aber die Biotechnologie wird uns schon noch die Antwort geben. Im Großen und Ganzen betrachtet sehe ich da eine evolutionäre Antwort. Ich sagte es schon an anderer Stelle. Mit dem Ende der semantischen Epoche, die sich identisch zeigt mit der Herausbildung des sog. modernen Bewusstseins endet überhaupt die humane Epoche des Menschen (ich rede hier von Mensch, nicht von Subjekt, obwohl auch das Subjekt damit sein Ende findet). Die Epoche deren Abwicklung nenne ich „autistische Epoche“. Ich denke wir stecken mittendrin. Sprache wird obsolet, ja wird zum Hindernis. Der ganze Denkprozess, welcher da umständlich in kommunikativen Formen geleitet wird, erweist sich als zu langsam. Die logische Antwort hierauf wäre die Telepathie, falls es einer Kommunikation überhaupt noch bedarf. Der „Menschencomputer“ (dieser Begriff stammt nicht von mir, sondern vom VDI) ist im Kommen, und dieser bedeutet radikal gedacht, die Vernetzung aller menschlichen Gehirne. Und dies möglichst außerkörperlich (letzteres wäre auch ein Erfordernis des Eroberns des Weltraums). Dass das auch ein Angriff auf die Philosophie ist, will ich an dieser Stelle gar nicht mehr kommentieren, nicht weil ich etwa befürchten müsste, zu ideologisch zu argumentieren, nein, weil die Philosophie ehe nur noch „Moralphilosophie“ zu sein scheint. Denn das Subjekt zweifelt an dieser – nur noch an dieser! Auch einem Žižek scheint diesbezüglich die Argumente auszugehen. Denn „ich möchte lieber nicht“ klingt doch sehr moralisch. Obwohl ich sehr bemüht bin, darin einen diesbezüglichen revolutionären Impetus (und eben nicht nur Gestus) zu sehen.

Aber wir können gerne mal über das Thema Ideologie reden. Ich bin da offen. So wie Sie, Herr Lützenich bzgl. der Entropie. Ich sehe da ehe einen geradezu direkten Zusammenhang beider Thematiken.

faz.net/blogs/deus/archive/2011/10/27/alles-mueller-oder-was

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    […] allem aber ist Sex Kommunikation. Wo diese hinfällig wird (und vielleicht durch Telepathie ersetzt), könnte somit auch Wellness in Form einer Computersimulation obsolet geworden sein. […]

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