Einige Gedanken zum „verrückten“ brasilianischen Wahlkampf

Einige Gedanken zum „verrückten“ brasilianischen Wahlkampf

Diesen Beitrag habe ich zunächst als Kommentar in Facebook gepostet. Doch ob seiner Grundsätzlichkeit blogge ich ihn.

Interessant auch die Rolle der Religion im Vorfeld dieses „verrückten Wahlkampfes“, wie in hiesigen Presseorganen mal betitelt. Wobei vor allem die schon im US-Wahlkampf von sich reden gemacht habenden sog. Evangelikalen eine besondere Rolle zu spielen scheinen, wie dem katholischen Domradio.de (siehe Link unten) zu entnehmen. Unter dem Titel Mischmasch aus Religion und Gewalt steht z.B. folgendes:
„Die Politiker haben ihren Diskurs darauf abgestimmt. Allen voran der Ex-Militär Bolsonaro, der nach eigenen Angaben streng katholisch ist. Im Jahr 2016 ließ er sich jedoch medienwirksam von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen. Rund ein Drittel der Wähler gehört evangelikalen Pfingstkirchen an, die im Parlament unterrepräsentiert sind. Das soll sich bei diesen Wahlen ändern, wofür die großen Pfingstkirchen tief in die Tasche greifen.

Seit seiner Taufe in Israel lobpreist Bolsonaro nun stets Gott in seinen Diskursen, in denen er zugleich Polizisten für jeden getöteten Banditen Extraprämien verspricht. Zudem ist er dafür bekannt, Frauen, Homosexuelle und dunkelhäutige Menschen zu beleidigen und Folterer der Diktatur (1964-85) hochleben zu lassen. Trotzdem zieht der Mischmasch aus Religion und Gewalt bei den Wählern. Im Internet findet man viele Fans von ihm, die sich als Soldaten oder Waffennarren zu erkennen geben und den politischen Gegnern gleichzeitig in Form von abgewandelten Bibelzitaten drohen. Dem Attentäter drohen sie „im Namen Gottes“ mit schlimmster Tortur.“

Wie aus anderen Presseberichten zu entnehmen, ist es vor allem sexuell konnotierte Gewalt, also zumeist Gewalt gegen Frauen (und Homosexuelle), die da in Kombination mit religiösem Fanatismus zum Tragen kommt.
Doch die Inszenierung dieses Fanatismus, und vor allem auch die euphorische Reaktion der Börse auf die sich abzeichnende Mischung aus faschistisch und religiös motivierter Diktatur, verweisen auf den Klassencharakter dieses Fanatismus. Die bis dato säkularste Form der Klassengesellschaft – die kapitalistische Moderne – fällt in ihren Endkämpfen auf ihre Vorläuferformen zurück. Die englische wie die französische bürgerlichen Revolutionen wurden angeführt von Pietisten und sonstigen Frömmlern. So war auch die Guillotine des französischen Revolutionärs Robesspiere nichts anderes als das Werkzeug zur Auflösung gewisser Zwangsneurosen aus dem preußisch-deutschen Krähwinkel heraus – genannt Königsberg. So wie Kant nur Antinomien sah, wo die Interessen sozialer Klassen sich antagonistisch gegenüberstehen, sah Robesspiere nur Abtrünnige, wo eben diese Klassen ihre praktisch-politischen Interessen endlich entfalteten. Doch so sehr die Aufklärung Ausdruck einer Dialektik war, so wenig war sie sich dessen bewusst. Frömmelei statt Dialektik, sinnlose Gewalt statt aufgeklärter Klassenkampf. Statt Aufklärung im praktischen Klassenkampf ein Revival der Bergpredigt nach dem anderen. Bis heute. Man schaue sich nur mal die Gottesdienste solcher evangelikalen Gemeinden an. Selbst in meinem von Ordensschwestern geleiteten katholischen Kindergarten in den frühen 60ern im fränkischen Bayern ging es nicht so überspannt-rückwärtsgewandt zu.

Was ich hier also sehe, ist der Versuch, und zwar quasi in der Ahnung des Untergangs des Kapitalismus, den man als christlicher Apokalyptiker wohl doch früher zu sehen versteht als als marxistischer Dialektiker, einen christlichen Gottesstaat zu errichten. Also vorsorglich auf diesen Untergang ein Habitat für das bedrohte Patriarchat schaffen zu wollen. Manche nennen das auch „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“. Diese Vision scheint alle reaktionäre Strömungen der aktuellen Zeit zu vereinen, alle Religionen wie überhaupt alle Formen bürgerlicher Ideologie. Und das scheint das „Neue“ all dieser und jener Diktaturbestrebungen zu sein. Der postmoderne Bonapartismus mag viele Formen annehmen, sich antik rechts oder auch mal „aufgeklärt“ links gerierend, doch in einem geschlossen erscheinend: in seiner Frauenfeindlichkeit. Historisch handelt es sich dort wie hier um das letzte Aufbäumen des kapitalistischen Patriarchats, nämlich in dessen gerontokratischen Phase.

Jene „Helix“ aus Lustfeindlichkeit und Vergewaltigungsfantasie zieht sich durch die gesamte kapitalistische Epoche, ja kennzeichnet quasi das „kapitalistischen Genom“. Doch wo das Kapital gezwungen ist, die Frau als Produktionssubjekt, ergo: Klassensubjekt zu verwerten, öffnet es eine offene Flanke, nämlich die am Körper des es umschließenden Patriarchats. Und an dieser Flanke bedarf es der religiösen Hilfstruppen.

Der Übergang ins Patriarchat vor 5 Tausend Jahren, vielleicht waren es auch ein paar Tausend mehr, war sicherlich kein friedlicher, und mögen die Geschichten über die Amazonen auch ein Mythos sein, doch der Ausgang aus diesem Patriarchat wird ganz sicherlich so etwas wie weibliche Krieger hervorbringen. Frauen, die sich nicht mehr von sie vergewaltigenden Männern „schützen“ lassen, sondern diesen Schutz selbst in die Hand nehmen. Sie werden es müssen, denn jede Verschärfung des Klassenkampfes wird eine gegen sie gerichtete sein. Sie werden diesen Kampf auch mit Intelligenz führen, mehr denn je als ein Klassenkampf in der Geschichte. Was auch immer sie von dieser Intelligenz heute noch trennen sollte, das Kapital selber wird auf diese zunehmend mehr und mehr angewiesen sein.

Ob als „Mütter“ in Argentinien, die ihre gemordeten Kinder suchen, oder als Frauen und Mütter in der Türkei, die laut auf Tellern trommeln, um ihre Solidarität mit der kämpfenden Jugend zum Ausdruck zu bringen, oder als junge Frauen, die in Nordafrika die „Arabellion“ so voran trieben, wie die Vergewaltiger von sich weg, oder wie kürzlich erst wieder in Iran, wo sich die Frauen demonstrativ das Tuch vom Kopf reißen, oder auch als Frauen in den Metropolen des Kapitals, die sich nicht mehr länger die sexistischen Sprüche eines Präsidenten anhören wollen, und die ganz sicher alles unternehmen werden, um ihm dieses als Privileg der Macht wieder zu entreißen, oder auch als Frauen, von deren Hände Arbeit quasi im Nebenverdienst ein ganzer Kontinent lebt und überlebt, wie in Afrika und in großen Teilen Asiens, sie alle, und die Liste ist nicht abgeschlossen, bringen diesen Planeten zum Beben, wenn sie sich solidarisch erheben.

domradio.de/themen/weltkirche/2018-09-09/die-religion-im-brasilianischen-wahlkampf

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