Krahl vs. Marx, oder auch: mit beiden die Metaphysik einer rein theoretischen Selbstaufklärung überwinden
Im Angesicht der angekündigten, resp. angedrohten und solchermaßen berechtigten wie anmaßenden Bezugnahmen auf Marxens 200-jährigem Geburtstag, am 06. Mai 2018, möchte ich einen kritischen Kopf der Vergessenheit entreißen. Einen, der, wenn er nicht auf tragische Weise, nämlich durch einen Autounfall, nämlich 1970 mit 27 Jahren, all zu früh, ums Leben gekommen wäre, vermutlich der revolutionären Kritik, will heißen: der einzig möglichen Marxrezeption, nämlich der kritischen, eine ganz andere Richtung verpasst hätte. Und der damit möglicherweise dazu beigetragen hätte, dass die Krise des Kapitals nicht in eine Krise der Kritik des Kapitals umgeschlagen wäre. Und wenn doch, ihm diese Krise als Anleitung ihrer emanzipatorischen Überwindung gedient hätte.
Es geht um Hans-Jürgen Krahl, dem antiautoritär inspirierten, doch wahrhaft autoritativ wirkenden Kritiker wie Interpreten der Marxschen Kritik selber. Die materialistische Dialektik nicht nur theoretisch dem vorgefundenen idealistischen Material der abstrakten, dennoch realen Kapital- wie Ideologiebewegung entgegenzusetzen, sondern diese Kritik des Vorgefundenen zugleich soweit zu treiben, dass sie zuletzt selbst die Kritikbewegung der Kritik unterzieht, das war auch Marxens Anliegen. Doch Krahls Kritik setzt wiederum an dem solchermaßen wiederum rein abstrakten Diktum an. Im Prinzip erinnert er mich stark an Marcuses „Permanenz der Kunst“, in der Marcuse die Kunst als besondere Form der Praxis, einer schon in der Form der Kunst liegenden emanzipativen nämlich, zu begreifen sucht.
Und vielleicht ist das auch kein Zufall. Denn die Kunst ist per definitionem insofern eben nicht in den Wertkategorien der Kritik der Politischen Ökonomie Marxens zu denken als sie in der Praxis dieselbigen permanent überwindend, also im Sinne Krahls kapitalnegierende „Arbeit“ ist. Und als solche die Marxsche theoretische Wertkritik in praktische Kritik verwandelt, insofern also eine relativ unvermittelte Form, quasi „natürliche“ Form des Klassenkampfes darstellt. Das Marxsche Postulat, dass die „Waffe der Kritik“ durch die „Kritik der Waffen“ ersetzt werde, sobald die revolutionäre Theorie die Massen ergreift, lässt uns an zwei (theoretischen) Fragen allerdings verzweifeln:
Wer sind erstens die Träger der „Waffe der Kritik“, bis die revolutionäre Theorie dann zweitens die Massen erfasst und die Kritik der Waffen einsetzt? Für Krahl hingegen scheinen das keine theoretischen Fragen zu sein, sowenig wie für die Kunst. Und wo Marcuse die Kunst zur Kritik macht, macht Krahl die Kritik zur Kunst.
Sowenig wie das Proletariat eine revolutionäre Klasse ist, ohne sich seiner Klasseninteressen (also jene Interessen nach Krahl, die die Theorie erst entdeckt, und damit zugleich jenes von Marx apriori unterstelltes „revolutionäres Subjekt“ eigentlich erst kreiert; vgl. auch das Verhältnis von „Proletarier und Kommunisten“ im Manifest der Kommunistischen Partei, insbesondere folgenden Satz: Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus) vergewissert zu haben, ist „der ‚kollektive Theoretiker des Proletariats‘ (…) die Intelligenz nicht per se, sondern erst als Ergebnis eines theoretischen wie praktischen Selbstaufklärungsprozesses“, so Hermann Kocyba, in Abstraktion und Herrschaft, 2010.
Der nun folgende Text von Hermann Kocyba führt uns ein in das Krahlsche Denken und kann uns dazu inspirieren, nicht nur diese beiden Fragen als eine Frage und darin zugleich als recht eigentlich praktische zu begreifen, sondern überhaupt die Theorie als eine solche, die uns die Metaphysik einer rein theoretischen Selbstaufklärung, resp. rein praktischen Selbstbefruchtung, zu überwinden hilft:
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