Eine dritte Sicht auf die Welt

Eine dritte Sicht auf die Welt
Bloggen bewegt sich für mich zwischen Kunst, Literatur und Meditation“, das kommt mir irgendwie bekannt vor. Und fügt man hinzu: „Das Netz ist ein eigenständiger Kulturraum“, dann kommt man all zu leicht auf den Gedanken, dass die Welt sich womöglich nicht nur im digitalen Raum annähert. Ich hatte vor Jahren eine Debatte mit einem arabischen Wissenschaftler, der auf den Begriff „Orient“ geradezu aggressiv reagierte. Den Orient gäbe es nicht, den gab es nie, das wäre nur den Abgrenzungsstrategien eines modernen Westens entnommen.

Nun ja, ich bin mir diesbezüglich nicht so sicher. Ich lebe seit Jahrzehnten inmitten von Orientalen und mache permanent die Erfahrung, dass eine „Abgrenzung“ auch von dort ausgeht. Nur hat diese nicht nur eine andere Form, eine andere Semantik, sondern auch eine andere Qualität, enthält einen ganz anderen Blickwinkel. Sie ist mehr Reaktion als Aktion, mehr Reflex als Impuls („Pseudorassismus und Klassenhass“), doch ist sie nicht weniger heftig, nicht weniger authentisch. Das hört sich dann ab und an so an:

„Wir Türken, wir Perser, wir, wir, wir … sind anders. Ihr Deutschen könnt das nicht verstehen!“ Das Problem ist, dass das „Anderssein“ nicht nur nicht konkret genug ist, um verstanden zu werden; es entzieht sich offenbar jeder sprachlichen Beschreibung. Und es kann als Hilferuf wie auch als Aggression verstanden werden.

Als meine erste Frau, eine Türkin, mich verließ, bekam ich von ihr ein kleines Büchlein mit dem Titel: „Das Andere anders sein lassen“ behändigt, das war nicht nur die Reaktion auf „Nicht ohne meine Tochter“ (von Betty Mahmoody, einer Amerikanerin, die mit einem Iraner verheiratet war, der ihr das Kind im Iran zu entwenden suchte, worüber nicht nur eine große Liebe zerbrach, sondern auch eine große Hoffnung, bzgl. der Völkerverständigung, so jedenfalls aus der Perspektive der Betty), sondern auch auf eine 12-jährige, und bis dato nicht (identisch) begriffene Ehe, die mal als große Liebe begann.

Ich bin mir nicht sicher, ob es der Schleier ist, der das macht, denn schließlich wird der in Deutschland doch nur von einer kleinen Minderheit (freiwillig?) getragen (meine damalige Frau kam aus Istanbul!), und im Iran von vermutlich 90 % der Frauen (innerlich) abgelehnt, und ich denke auch nicht, dass das „Netz“ diesen Schleier lüftet, oder ihn gar in die Ferne verweht.

Es ist ein innerer Schleier, dem keine passende Semantik zum Ausdruck verhilft, und somit immer eingeschlossen bleibt. Und ich bin mir sicher, dass auch die Sprache im Netz, und sei diese noch so lyrisch verpackt, zu dürftig ist, um das zu ändern, das zu öffnen, was einige 1000 Jahre fest verschlossen haben.

Wir erinnern uns: Die Büchse der Pandora, jene, die von Epimetheus, dem Bruder des Prometheus, gegen dessen Rat geöffnet wurde, öffnete einen völlig neuen Blickwinkel auf das Weltgeschehen – einen auf den Westen, einen aus dem Westen. Diese Büchse hartnäckig verschlossen halten zu wollen, diesen griechischen Mythos stur ignorierend also, das, und so will es mir scheinen, wird weiterhin im Orient versucht.

Mag sein, dass das jener Zeitdifferenz zuzuschreiben ist, welche da das Patriarchat dem Orient eben erst viel später zum „Geschenk“ hat werden lassen, jener so frühen Errungenschaft der „Danäer“ (wie die Griechen von Homer, auf eine mythische und solchermaßen ägyptische Abstammung referierend, noch genannt werden. Man darf rätseln. Wissen diese Orientalen also, ob der Gefahr in der Büchse, sind sie verwarnt, ob des antiken griechischen (abendländischen) Vorbildes, oder sehen sie diese Büchse erst gar nicht?

Die Antwort ist keine Nebensache. Denn ersteres würde bedeuten, dass sie einfach die Klügeren sind, die, die aus der „Geschichte“ (dem Mythos) gelernt haben, letzteres, dass sie aus einer wirklich völlig fremden Welt kommen, einer, die die Welt niemals auf gleiche Weise sehen kann, wie wir das tun.

Mag sein, dass einige wenige, Wissenschaftler, Künstler, Kulturreisende, aus beiden Welten, die sich ähnlich einem „Zeitreisenden“ eine andere, eine hypermoderne Sicht, angeeignet haben, eine, die so phantastisch ist, dass sie ihnen die Illusion vermittelt, es gäbe die darunter liegende Welt, eine sich gespalten zeigende, gar nicht. Das wäre dann also eine dritte Sicht der Dinge, die auch keine wirkliche Übersetzungsleistung zu schaffen vermag.

Illusionen sind noch schlimmer als falsche Gewissheiten, sie sind nämlich gar keine. Sie können uns dazu bringen, auf einem Teppich zu schweben, und da wären wir in der Gedankenwelt eines Orients, ohne dort je sein zu können.

Und wenn wir schon bei 1000 und einer Nacht sind, nehmen wir diese Geschichte als Beispiel. Sherazade, in Persien Sharzad genannt, ist alles andere als ein Märchen, dort, aber auch keine Realität, kein Geschichtsbuch, aber auch keine Mythensammlung, und schon gar nicht ein moderner Erotikroman. Das alles sind mögliche Zuschreibungen aus der Sicht eben des „Abendlandes“, des Westens; denn nur hier trennen wir zwischen Märchen und Realität, Mythos und Geschichte, oder kennen so etwas wie einen Erotikroman, also etwas was die Beziehungen der Geschlechter in seiner Verklärung erst beschreibbar macht.

Beginnen wir mit dem Tabu im Orient. Erotik ist ein Tabu, also beschreibt man das nicht, sondern umschreibt es, umschmeichelt den Gegenstand der „Beschreibung“. Es ist ein solches Tabu, dass oft nicht mal klar ist, von welchem Geschlecht eigentlich die Rede ist (was sicherlich auch damit korreliert, dass in manchen orientalischen Sprachen „Geschlechtsworte“ gar nicht existieren). Die Lyrik eines „Hafiz“ („Hafiz, die Homoerotik, der Nihilismus…) wäre da ein Beispiel für.

Auch den Mythos kann man nicht trennen von der Geschichte, von irgendeiner Realität, denn die Realität ist oft fürchterlicher als der grausigste Mythos, und die Geschlechterbeziehungen kann man schon gar nicht zu begreifen suchen, tut man das, zerstört man sie, macht man sie unmöglich (öffnet die Büchse der Pandora gar, bzw. erkennt diese überhaupt erst an). So behandelt man die Frau wie ein Tabu, man umschmeichelt sie, man findet Worte, die alles ausdrücken, nur nicht den Tatbestand eines Erregtseins, eines Begehrens (und darin liegt womöglich die größte Differenz zwischen Orient und Okzident: eine Frau, die Mann all zu offen begehrt, fühlt sich beleidigt, beschmutzt, entehrt, in ihrer Würde herab gesetzt; ein Goethe – Marienbader Elegien -, der Hafiz so verehrt habe soll, wäre einem Hafiz als unmöglich erschienen). Und Geschichte ist etwas, was man verbannt, man fürchtet sie, wie einen grausamen Herrscher (eine beleidigte Frau!), denn: es ist ehe alles nur Lug und Trug, Trugschluss, Mythos, nicht Wirklichkeit, oder: etwas Unaussprechliches, ein Tabu.

All das zusammen ergibt so etwas wie eine Wahrheit, eine solche, die lauten könnte: Wir sind halt anders. Nur ihr versteht das nicht.
Versuch es einer anders zu beschreiben!

Mangel an Konsens
@ Muzzel: Intellektuell redlich wäre es, wenn Sie sich auf den Inhalt beziehen würden, weil dann Sie mir auch belegen könnten, was daran „pseudo“ ist. Und zu der Frage der Belehrung/dem Schulmeistern, kann ich nur dreierlei sagen: Sie müssen Ihre kostbare Zeit nicht mit meinen „Belehrungen“ vergeuden. Aber danke für Ihre Belehrung, ich werde Sie im Auge behalten. Doch: Unerträglich sind „die belehrende“ Form vor allem demjenigen, der dem Inhalt offenbar nichts entgegen zu setzen hat.

@Violandra Temeritia von Ávila: Ich sehe das nicht anders als Sie. Aber dies „nicht verstehen können“, ist nicht mein Vorwurf. Er kommt als Reflex von denjenigen, die infolge ihres Ausgegrenzt-(Gefühlt-)Seins, wiederum so selber ausgrenzen. Es ist quasi ein Totschlagsargument, welches im Prinzip die ganze Sprachlosigkeit offenbart – die bis dahin nicht zu überbrücken vermochte Differenz.

Im Übrigen, dieselbe Person, die als Trennungsgrund/als Trennungsvorwand, ein nicht akzeptiertes „Anderssein“ proklamiert (in Bezugnahme auf einen anderen, der da „anders“ gewesen sein wollte), die hier beschriebene Ex-Frau also, entzieht dem angeblich nicht verstehenden Partner das gemeinsame Kind, ohne Not, ohne Begründung, und definitiv zum Schaden des Kindes.

Es offenbart sich da also mehr als nur Sprachlosigkeit, denn auch eine Art Gedankenlosigkeit (man könnte auch sagen: Selbstgerechtigkeit).

Um das klar zu stellen: Es geht mir diesbezüglich nicht darum, mich zu beschweren, gar über Ex-Frauen, sondern eben gerade um die Darstellung von Unmöglichkeit einer Beschwerde, ob des Fehlens einer gemeinsamen Beschwerdeinstanz, eines gemeinsamen (Rechts-)Gefühls, oder gar auch einer gemeinsamen Verantwortung, gegenüber Dritten, wie dem Kind zum Beispiel.

Ich bin bereit anzuerkennen, dass solche Konflikte ganz generell auch als Geschlechterkonflikte beschrieben werden können, also der Migrationshintergrund hier nur eine sekundäre Rolle spielt, nur sagt da vermutlich keiner: „Ich bin anders, und du musst das akzeptieren!“, sondern da sagt man vielleicht einfach nur: „Geh mir aus dem Weg!“

Aber vielleicht ist auch der Geschlechterkonflikt ein nicht zu überbrückender, nur scheint dies durch die gemeinsame Sprache (die allerdings als männliche mittlerweise erkannt ist!), durch das identitätsstiftende moderne also scheinbar gemeinsame Rechtsbewusstsein, nicht mehr so richtig erkennbar. Erst vor dem Scheidungsrichter wäre zu begreifen, dass da zwei nur noch gegeneinander stammeln, ob der eigentlich erkennbar fehlenden gemeinsamen Sprachbasis. Aber auch da denkt jeder für sich: beim Nächsten/bei der Nächsten wird es besser.

Verstehen müssen wir vielleicht nicht, was der andere da sagen will, wenn wir das eben nicht können; aber wir sollten verstehen, dass da was ist, was zu sagen wäre, wenn wir uns noch was zu sagen hätten. Das wäre eine Art Minimalkonsens, der eine Gesellschaft tragen könnte; aber ich befürchte, dass genau ein solcher im Moment flöten geht (wenn er je dagewesen ist), sowohl zwischen den Migranten und den „Autochthonen“, als auch zwischen den Geschlechtern.

Und um es ganz deutlich zu sagen: Die „kulturellen Knoten“ können auch einfach nur Verknotungen sein, „gordische Knoten“ gar („Was dem Manne sein Orakel“)

Ein verbindliches Angebot
@V: Danke, ich lerne gerne dazu, aber im Moment überschätzen Sie meine Kompetenz in Sachen Fußball. Die Tatsache, dass ich im Rahmen eines Ringens um die Weltmeisterschaft mal ein oder zwei Kommentare („Ein Trainer, der nicht so rumzauselt“, „Amüsiert, aber nicht respektlos“) gewagt habe, heißt nicht viel, eben nur, dass ich da mal in fremden Revieren gewildert habe, weil ich so gut bei Laune war.
Aber das hier wird mir jetzt zu komplex. Wer schießt wem eine Steilvorlage vors gegnerische Tor? Wo kommen die Rück-, resp. Querpässe her? Und warum ist der Ball jetzt im Aus? Wessen Ball überhaupt?

Das Thema ist mir zu wichtig, es ist geradezu „mein Thema“!, als dass ich es als ein Spiel auffassen möchte. Und es wäre schön, wenn auch ein paar Inhalte kommentiert werden würden, gerne auch kontrovers.

Ich sage es mal ganz konkret: Wer mit Migranten lebt, so wie ich, also gewissermaßen vor dem Migrationshintergrund des Anderen schon seinen eigenen hat, der muss einen besonderen Stil haben, ja der muss geradezu eine besondere Form der Kritik wählen, eine solche, die sozusagen die beiderseitigen Sprachbarrieren berücksichtigt. Er muss auf jeden Fall jede Art von Provokation meiden, ohne dabei als Schwächling missverstanden zu werden („Der Weg in die innere Immigration“).

Nehmen Sie „Was dem Manne sein Orakel“ (siehe oben) und Sie verstehen vielleicht auf welch riskantem Terrain das alles stattfindet.

Die Reaktionen auf diese kleine Ausarbeitung sind übrigens interessant. Männer sehen darin nicht selten eine übertrieben frauenfreundliche Haltung (warum sollen die Männer von der Geschichte abtreten?), (einheimische, womöglich feministisch inspirierte) Frauen wittern darin Frauenfeindlichkeit (wie kommt ein Mann dazu, solches zu schreiben, was will er eigentlich wirklich, bildet er sich etwa ein, er verstünde die Frauen, will er uns anmachen oder anpöbeln, oder gar austricksen?). Meiner eigenen Frau, einer Perserin, gefiel es. Mit (abendländischem) Feminismus kann sie allerdings nichts anfangen. Viele verstehen es erst gar nicht, nämlich als das, was es sein soll: ein verbindliches Angebot, welches (dennoch) niemanden zu irgendwas verpflichtet.

faz.net/blogs/deus/archive/2010/10/11/kulturelle-knoten

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  • Von Der Danaer unwürdige Töne am 13. Februar 2012 um 22:22 Uhr veröffentlicht

    […] allein begründet sich keine Geschichte – und noch weniger auf eitle Hoffart. Solche Töne sind der Danaer […]

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