Das falsche Ritual:
Heilige treten nicht einfach zurück, sie treten in den Götterstatus
Zu Sahra Wagenknechts Rücktritt
Vor exakt 20 Jahren – am 11. März 1999 – schmiss Oskar Lafontaine seine Posten als Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzenden seinem Kanzler und SPD-Genossen Schröder vor die Füße. Woran nicht nur Lafontaine dieser Tage in Interviews erinnert, wo auch der Hinweis nicht fehlt, wie sehr ihn diese Entscheidung belastet hätte, sondern beinahe mehr noch seine Genossin und Ehefrau Sahra Wagenknecht, die sicherlich nicht zufällig ihre Rücktritte, nämlich als Fraktionsvorsitzende der Die Linke und des Vorsitz‘ der Netzbewegung „Aufstehen“, gewählt hat. Sie begründet das allerdings, im Gegensatz zu Lafontaine, weniger politisch als – beinahe – persönlich.
In ihrem Fall neige ich allerdings dazu, ihr das „persönlich“ geradezu wörtlich abzunehmen. Interessant ist, dass sie mit keinem Wort auf diese gesundheitlichen Probleme eingeht, auf den konkreten „Stress“, auf den sie anspielt. Sie hält sich bedeckt, doch zwischen den Zeilen deutet sie mehr an als sie vermutlich ahnt. Beziehungsweise, ich sehe darin mehr als sie offen zugeben will.
Immer wieder ließ sie in Interviews durchblicken, wie letztlich einsam ihr Leben in der DDR, insbesondere während ihrer Kindheit, gewesen sei. Exakt am 11.3.2019, also am Jahrestag des Rücktritts Lafontaines, stellt sie in einem Interview mit der RP-online so scheinbar nebenbei und lapidar fest: „Ich war nicht gewohnt mit anderen Kindern zu spielen.“
Nicht dass mich das jetzt besonders überraschte, doch bleibt meine Irritation ob des fehlenden selbstanalytischen Ansatzes in ihrem „Outing“. Es hört sich an, als wollte sie uns einen Hinweis liefern auf ihre Distanziertheit, mit der sie offensichtlich auch mehr als ein wenig kokettiert. Doch das scheint mir vordergründig. Vielleicht ermutigt durch das Outing der 16-jährigen Greta bzgl. ihrer Asperger-Persönlichkeit, lüftet sie ein wenig den Schleier. Ein Mensch, der die Einsamkeit so liebt, wie sie es darzustellen wünscht, kann auch einfach nur furchtbar einsam sein. Der Mensch braucht den Mitmenschen. Doch dies fordert von ihm auch sich selber zurück zu nehmen. Dem Mitmenschen Platz lassen. Wo wir das nicht tun, erzwingt sich womöglich dieser Mitmensch seinen Platz. Und genau das überfordert uns auch nicht selten. Wir lernen aus der Erfahrung, und das lernen wir vor allem in der Kindheit, da wo das alles noch als Spiel daherkommt, dass, wenn auch dieser Umgang verletzlich sein kann, er uns stärker macht, schließlich unser ganz persönliches „Selbst“ herauszubilden hilft. Isolierte Kinder, also Kinder, die das nicht lernen, leiden nicht selten unter einer sog. Ich-Störung. Solche Menschen sind leicht zu verletzen. Sie lieben nicht ihre Mitmenschen, sie fürchten sie. Erkennbar auch daran, wie sie ihre Affekte beherrschen, keine Regung zeigen, ihr Gesicht wirkt wie das eines Eisbären, extrem affektgemindert – wahrhaft eisig. Wir wissen nicht, wann der Eisbär uns vielleicht mag, fürchtet oder uns gar anzugreifen sucht. Seine Gesichtszüge verraten uns nichts.
Und so sehe ich auch Sahra Wagenknecht. Daran interessiert mich allerdings weniger der individual-psychologische Aspekt. Ich sehe mich nicht als ihr Psychiater. Ich bin marxistischer Kritiker, mich interessiert wie diese Persönlichkeit sich als politische Persönlichkeit darstellt. Ich kann und will nicht beurteilen, ob sie eine Borderline-Störung hat, oder vielleicht auch eine autistische Persönlichkeit ist, oder einfach nur furchtbar einsam. Das ist und bleibt ihre private Angelegenheit. Doch als Politikerin, zumal lange Zeit als Ikone einer sich als kommunistisch vorgestellt habenden innerlinken „Plattform“, unterliegt sie der öffentlichen Kritik und damit unterliegt auch ihre „persönliche“ Persönlichkeit – ihr ganz persönliches „Selbst“ – der Kritik.
Das ist umso wichtiger, als diese Persönlichkeit womöglich gar der tiefe Grund für ihren doch mehr als zweifelhaften politischen Erfolg ist, nämlich in zweifelhaften Milieus. Für mich ist es kein Wunder, dass sie nicht nur gewisse Charaktere in der linken Szene zu faszinieren scheint, sondern beinahe mehr noch in der rechten Szene. Es sind die autoritär geprägten Charaktere, klassische Untertanen. Diese Charaktere „lieben“ ihre Führung wie die Christen ihre Heiligenabbildungen – ihre Ikonen. Für die ist dieses Madonnengesicht Ausdruck perfekter weiblicher Schönheit. Ohne Prägung, jungfräulich – auf ewig kindhaft. Sahra Wagenknecht, und das wird sie wahrscheinlich entsetzen, versetzt also die patriarchalisch unterworfenen Subjekte in quasi dionysische Ekstase. Sie ist so eine Art kindliche Heilige für sie – eine „Lolita“. Und sie mobilisiert nicht die sozialistischen Massen, die um ihre Befreiung kämpfenden, sondern die nihilistischen Massen, die sich lustvoll unterwerfenden.
Und das ist in der Tat die Mobilisierung einer Art „Querfront“. Sie ist also gefährlich, aufgrund auch dieser „Politischen Ich-Störung“, wie ich das mal nannte. Doch Heilige treten nicht einfach zurück. Sie treten in den Götterstatus, doch das erfordert eigentlich das Opferungsritual.