Herdentier statt Individuum

Herdentier statt Individuum
Über all diese Mätzchen könnte man lachen, wenn es vermutlich nicht um etwas anderes ginge. Um die Gemengelage von Gesundheitspolitik und Gesundheitsindustrie, und um ein Subjekt (und Staat), welches von diesem Gemengelage manipuliert wird. Um Wohlfühlpillen verkaufen zu können, muss man das Wohlfühlwollen erst auf den Markt gebracht haben. Wohlfühlen statt Genießen, versteht sich. Das Subjekt wird immer mehr auf sein ökonomisches Bestimmt-sein reduziert. Und der Staat auf das, was er im Kern schon von Beginn an gewesen ist – Sachwalter des Kapitals.

Ich genieße gern mal eine gute Zigarre – als eigentlich Nichtraucher – und/oder ein gutes Glas Wein, ohne mir sicher sein zu können, dass ich mich danach noch wohlfühle. Ich riskiere also hin und wieder meine Gesundheit und mein Wohlempfinden zugunsten einer Empfindung, die mir wichtiger ist: der Genuss. Schließlich habe ich gelernt, dass Wohlfühlen ein komplexes Empfinden ist, und dass es auch ganz gut funktioniert ohne die Segnungen von Gesundheitsindustrie und völlig im Gegensatz zur offiziellen Gesundheitspolitik. So greife ich nur noch selten zu irgendeiner Pille. Schon gar nicht zu irgendwelchen Wellnesspräparaten.

Um zu wissen, was einem gut tut, erfordert mehr als nur zu wissen, was gut und was schlecht ist. Ein eigenes Körpergefühl ist unumgänglich. Aber auch das Wissen ob der Begrenztheit jeder Erfahrung, auch der des Genießens. Wer keine Prioritäten setzt, wird auf die eine oder andere Weise immer süchtig, verliert also die Kontrolle über sich und seine Wünsche.

Und ich denke, dass es darum geht: Wir sollen die Fähigkeit verlernen, uns selber Grenzen zu setzen, angepasst an die eigenen Wünsche und Bedingungen. Wir sollen demnach darauf konditioniert werden, auf andere zu hören, auf deren Wünsche und deren Bedingungen. Wir sollen unser Schicksal niemals losgelöst von dem der Konsumgüter- bzw. Wellnessindustrie denken. Im Vorfeld eines neuen „Subjekts“, welches aber dann gar keines mehr sein wird, geht es um die Optimierung des gegebenen. Wir lernen gerade uns der Maschine anzunähern, die uns morgen ersetzen wird. Und eine Maschine raucht nicht, trinkt nicht…

Und obwohl die Rentenkassen darunter zusammenbrechen, sollen wir uns um ein langes Leben bemühen, ein gesundes natürlich. Doch die Entscheidung darüber, wie dieses lange und gesunde Leben aussehen soll, die sollen andere treffen. Und wer da jetzt glaubt, es ginge da um unser Wohl, oder auch darum Kosten zu sparen, oder gar um Ressourcen zu schonen, der dürfte irren. Es geht um unser Geld und um unsere Ressourcen, bzw. um die Ressourcen schlechthin. Geld, das der eine hat, der andere nicht. Eine Art natürliche Auslese. So wie in der Natur, wo aber längst das Kapital bestimmt, welche Ressource vorerst nicht geplündert wird.

Die, die das Geld haben, bekommen ein synthetisch reines Leben, die, die es nicht haben, werden ein kostengünstiges vorzeitiges Ableben erfahren. Nicht nur bei letzteren ist da „Genießen“ nicht wirklich bei vorgesehen. Denn genießen kann nur das Individuum. Und genau das, soweit es nicht identisch ist, mit dem idealen Marktsubjekt, steht auf der Agenda der Abwicklung. Vielleicht ist es das, was wir lernen sollen: erkennen und akzeptieren, zu welcher Kategorie wir gehören. Ja, auch die „Klasse“, Kategorie in Marxens Kritik der Politischen Ökonomie, erlebt jetzt ein Come Back als reale Kategorie, als Ersatz für die Klasse. Bedingungsloses Fremdvertrauen, statt Selbstvertrauen. Autoritärer Korporatismus, statt solidarischer Kollektivismus, Herdentier, statt Individuum. Darum geht’s.

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