Des Geringeren Distinktionsgewinn

Des Geringeren Distinktionsgewinn
Gesunde Ernährung war schon immer ein Klassenprivileg im Kapitalismus. Nur wussten bislang die betreffenden Subjekte nicht immer, was gesund ist. Der „feiste Bourgeois“ war daher nicht nur einer klassenkämpferischen Überzeichnung geschuldet. Er war schon Realität. Und auch der Facharzt für Herz- und Kreislauferkrankungen, der selber aussieht, als wäre er sein eigener Patient, kommt mir immer wieder als paradoxe Erscheinung in den Sinn. Manches konnte der gute und reichliche Stoff über den fetten Leib kaschieren. Doch bei der heutigen knappen Jugendmode bleibt der Distinktionsgewinn, gleich wie teuer die Kluft auch immer ist, bei allzu mächtigen Körpern, eher gering. Jetzt endlich kommt das Klassenprivileg der Ernährung zum Zug. Lieber weniger scheint bei vielen eh besser. Zumal wir wissen, dass die Dicken nicht die besser, denn schlechter Genährten sind. Das Fastfood sichtbar als billige Energiereserve um den Leib geschnürt. Doch wo gesund aussehen nicht gesund sein bedeuten muss, leistet sich eine Gesellschaft, in der die Verpackung wichtiger scheint als der Inhalt, eine Antinomie: Das Aussehen macht’s. Wenn man schon nicht aussieht, als würde man gut essen, sollte man wenigstens dort essen, wo man gut aussieht! Richard David Precht hat schon Recht, wenn er sagt, dass der Intellektuelle „schlecht essen“ muss. Was er nicht sagt, aber vielleicht meint: dass er auch schlecht aussehen sollte. Precht unterschlägt hier, wenn auch vermutlich unbeabsichtigt, denn sich kann er damit nicht gemeint haben, dass gutes Essen im Kapitalismus eh Glücksache ist. Und, dass gutes Aussehen sehr davon abhängt, wie wir essen, und bei dem „was“, wieviel davon. Wer das Essen als Glück und Lust empfindet, kommt mit geringeren Mengen aus. Und das ist vielleicht des Geringeren „Distinktionsgewinn“. Denn weniger ist nicht nur besser; es lässt auch besser aussehen. Bio oder nicht.

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