Tattergreise, lange vor unserer biologischen Zeit

Tattergreise, lange vor unserer biologischen Zeit
Dieser Tage saß ich in einem Bus, just zu der Zeit, als all die Schüler nachhause fuhren. Kaum einer, der nicht mit seinem Smartphone beschäftigt war. Und als ich gerade denken wollte: schau sie dir an, diese smarte Autistengeneration, bot mir doch eine der vermutlich 18-Jährigen (genaues Alter ist schwer zu schätzen, ob der hormongeschwängerten Turbomilch, die dieser Generation von Geburt an verabreicht wurde) ganz höflich ihren Platz an. Amüsiert und geschockt zugleich antwortete ich: „Nein danke, aber für so alt und gebrechlich halte ich mich eigentlich noch nicht. – Nett!“ Ich bin mir nicht sicher, wie ich das beurteilen soll. Als unverhoffter Nachweis, für eine dennoch die Umwelt und diese gar empathisch wahrnehmende Jugend? Dann empfände ich dieses Angebot dennoch als Beleidigung. Oder eben gerade als ein Mangel an differenzierter Wahrnehmung (und echter Empathie), da offenbar nur noch reflexhaft auf gewisse veränderte äußere Reize reagierend: da kommt einer, der ist grob geschätzt ein paar Jahrzehnte älter, also könnte er mein Großvater sein, also biete ich dem meinen Platz an, dann kann ich auf jeden Fall nichts verkehrt machen?
Oder ist es so, dass man uns es ansieht, dass wir noch Zeitung lesen und nicht cool über die Tages-Hypes im Smartphone huschen und wir daher schon als einer besonderen Fürsorge erheischend erkannt werden? So erfreue ich mich in meiner Stadt am Taunushang noch des Services ausgelegter Zeitungen. Auch wenn die angebotenen Zeitungen immer weniger werden. – Wie lange eine FAZ oder auch gerade die Taunuszeitung (Frankfurter Neue Presse und als solche im „Frankfurt-Teil“ mit der FAZ nahezu identisch) das noch durchhält, sei dahingestellt. Aber das ist es ja. Die jungen Leute haben das längst vor mir kapiert. Warum sollen sie Zeitungen lesen, die immer rarer werden, bzw. sich immer ähnlicher und deren Informationsgehalt zunehmend zweifelhafter? So bleibt mir nicht nur der Zeitungstisch beinahe konkurrenzlos vorbehalten, sondern vermutlich eben dieser jungen Generation die einzig mögliche Perspektive auf unsereins: Das sind Tattergreise, lange vor ihrer (biologischen) Zeit.

@ThorHa: Soviel Dünkel macht leicht närrisch. Da liebe ich mir die „Altersdepression“.

Nichts gegen gute Manieren
@Colorcraze: Ich widerspreche Ihnen nicht. Wenn es Manieren wären. Aber meine Befürchtung ist ja, dass es sich hier nur um Reflexe handelt. Denn eigentlich kenne ich solche manierlichen jungen Leute gar nicht mehr. Ich war nicht nur in Bezug auf mich überrascht (oder beleidigt). Das nahm gar kein Ende. Danach versuchten sich weitere in den „Manieren“. Aber alle Angesprochenen lehnten dankend ab, auch die, die es vielleicht wirklich verdient hätten.

Das Hirn muss zur Massenware werden
@ThorHa: Da Sie es angesprochen haben. Ich wage die Prognose, dass auch die FAZ das Zeitungssterben nicht überleben wird. Nicht wegen der Krise der Printmedien im Besonderen, dies ist ehe nur das Szenarium an der Oberfläche, sondern weil die Medienmacht der Marketingstrategen im Marketing dieser Strategen vollends aufgehen wird. Der „Konsumidiot“ der Zukunft wird noch weniger zu unterscheiden wissen zwischen Information und Manipulation als der bisherige. Und dies hat vor allem einen objektiven Grund, der sich natürlich im Subjekt auch abspielt. Wir erleben es jetzt gerade schon. Ein Kapital, das gezwungen ist, eine vormals zum Gotte erhobene Kategorie zu untergraben, das scheut sich auch nicht, das eigene Subjekt abzuwickeln (einschließlich der darin eingewickelten Perle – des bürgerlichen Intellektuellen). Der Markt ist es, dieser Fetisch des Kapitals, welcher da gerade zu Grabe getragen wird. Und Kapital ohne Markt, das ist wie Subjekt ohne Hirn. Und das steht uns bevor. Und der Anachronismus hierzu lautet: Und das in der Epoche, in der das Hirn zum wichtigsten Rohstoff geworden ist.
Aber für das Kapital ist das kein Widerspruch. Denn dieses Hirn muss zur Massenware werden, bevor es zu verwerten geht. Es muss sozusagen standardisiert werden. Und wie das im Konkreten aussieht, das wurde uns gerade anhand der Präsidentenwahl in den USA vorgeführt.

faz.net/blogs/stuetzen/archive/2012/11/20/neues-vom-wischer

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2 Kommentare

  1. tricky1
    Am 23. November 2012 um 16:42 Uhr veröffentlicht | Permalink

    Als Tattergreis bin ich auch manchmal amüsiert wenn mir von Jugendlichen ein Sitzplatz angeboten wird.

    Auch wenn es tatsächlich nicht notwendig wäre, finde ich es doch zuvorkommend und nehme immer mit freundlichem „Vielen Dank!“ an, mit der Überlegung dass zuvorkommendes Verhalten nicht einfach abgelehnt werden sollte, so wie man auch manchmal ein Geschenk einfach aus Höflichkeit annimmt??

  2. Am 26. November 2012 um 13:10 Uhr veröffentlicht | Permalink

    Hallo tricky1, sorry, dass ich darauf so spät eingehe. Hatte diesbezüglich ein Gespräch mit meinem erwachsenen Sohn. Seine Erklärung ist womöglich die beste: Es gibt keine echte Empathie unter Fremden, kein wirkliches Interesse. Alles ist mehr oder weniger Ritual, anerzogenes, oder anders erworbenes. Die einen haben’s, die anderen nicht. Man sollte zufrieden sein mit denen, die es haben.
    Kluge Antwort, wie ich finde, für einen 27-Jährigen.
    LG

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