Leserbrief zu „Was Literatur ist“, von Thomas Hettche, FAZ/Feuilleton, Printausgabe vom 08.04.2010
Nachtrag: Ein Tag danach kam dann doch der Beitrag Hettches in der Online-Ausgabe (siehe Link unten). Eine Kurzfassung meines Beitrages habe ich als Abstract gepostet. Allerdings ist mein Abstrakt unzulässig gekürzt worden, und auch der Hinweis auf den vollständigen Text in meinem Weblog ist verschwunden, so dass der Sinn ins Gegenteil verkehrt wurde, nämlich meine eigentliche Kritik an Hettches Beitrag. Den von mir geposteten Teil hebe ich kursiv hervor. Meine Reaktion darauf stelle ich fett markiert vorneweg:
Ich muss mich doch sehr wundern. Ist das wirklich noch eine Stilfrage, wenn die FAZ-Redaktion eine Zuschrift, hier in der Online-Ausgabe auch noch, derart verkürzt, dass das Gegenteil von dem heraus kommt, was die Zuschrift beabsichtigt, nämlich eine Kritik. Auch der Hinweis auf den vollständigen Text, nämlich in meiner Website, ist einfach verschwunden. Das ist blamabel und einer so großen Tageszeitung nicht würdig. Ich nehme an, dass Sie das jetzt auch nicht posten, aber ich sende es in meinem Weblog, es nützt Ihnen also nichts
Mfg an die Redaktion
Es macht Freude das zu lesen, denn jeden Satz kann ich unterschreiben, wenn ich auch vermutlich nicht jedes Wort so gewählt gesetzt hätte, wie er, wie Thomas Hettche. Und doch nützt es nichts, jedes Wort, ja jede Silbe scheint vor die Säue, so wie auch eines Frank Schirrmachers Klagen ob eines jenes Internets Wirkung auf des Menschen geistige Freiheit. Ein Klagen, das mir kommt, wie eben als unfreiwillige Bestätigung eines solchen, was ja einem Ralf Singer nicht so richtig gelingen möchte, „Menschen“ nämlich, als „unfreies Wesen“; so zumindest will uns die letzte technische Revolution eingeredet haben – postrevolutionär.
Denn auch hier ist es so wie es ist, nicht so wie wir es uns wünschen. Des Menschen Teilhabe nämlich, gleich an welchem Gut, ist so sehr der unaufhörliche Lauf der Dinge, ist das Rad in der Geschichte, das nicht zum Stillstand zu bringen ist, dass es einem schon irgendwie paradox erscheinen möchte, darin so etwas wie „Freiheit“ zu vermuten. Tragisch nur, dass dies passiert, d.h. dass die Auflösung der so bewährten Arbeitsteilung begonnen hat, wo sie doch noch nicht so richtig passen will, nämlich in die gewählte Zeit.
Versucht die Klassengesellschaft, nämlich deren konservativer Geist, genau dieses doch zu unterbinden, also genau das, was diese Klassengesellschaft selber hervorbringt. Und zudem, kommt das alles daher als Subtext zu dieser Auflösung, die wir auch als Prekarisierung wahrzunehmen begonnen haben, eben auch jener Klassen.
Auflösung und doch keine, Klassengesellschaft und doch keine, Teilhabe und doch keine, Freiheit, die ich eben nicht meine. Das will mir das Drama sein, das ich beklagen möchte. Daher ist jede Kritik so revolutionär, wie eben auch konservativ, ein Umstand, der nicht nur den Konservativen Sorgen bereitet, denn offenbar erodierte, „prekarisierte“, diese Revolution, an die ich da gerade denke, schon vor dem ersten Gedanken an sie, schon lange vor dem heute und jetzt.
Revolution nicht als das, was der Mensch durchsetzt, sondern als das, was zu verhindern, ihm nicht gelingt. Einen nicht weniger dialektischen Materialismus, ja einen grauenhafteren Determinismus, konnten selbst die verbohrtesten Feinde, einem jungen Marx, und im völligen Missverständnis dessen, wofür er da zu wirken begann, nicht unterstellt haben, denn genau dieser hätte sich hiervon angewidert abgewendet.
Die Freiheit liegt in der Entscheidung, nicht in der Notwendigkeit einer solchen, und somit nur noch in einer Hinwendung zu ihr. Und sei es auch zu dem Preis der Selbstverleugnung, ja der Selbstvernichtung.
Eine solche Dialektik hätte was religiöses, ja eigentlich christliches, ich gestehe es, dennoch nichts metaphysisches. Denn nicht wenige Revolutionäre wurden da „ans Kreuz“ geschlagen, aber ihre Botschaft damit auch. Höher konnte man sie nicht hängen, jene Botschaften!
Literatur sollte daher für etwas stehen, was sie selber offenbar am wenigsten verträgt, in ihren Kunstformen, in ihrem eigenen „lebenden“ Organismus: Freiheit – die der anderen. „Grenzen setzen und diese überschreiten“, das ist kein Freiheitsrecht, nicht für die Literatur, sondern eine Botschaft an die Massen, nämlich, dass diese endlich „der Teilhabe“ sich bemächtigen, die Grenze überschreiten.
Die Tendenz zur Teilhabe, auch in der Form als „Lebensteilnahme“, drückt schon eine solche Freiheit aus, die, welche die letzte technische Revolution so nicht nur nicht zu unterdrücken vermocht hat, sondern höchstselbst erst schuf.
Die Literatur mag sterben, muss sterben, aber nur um sich zuvor in einer höheren Sphäre verwirklicht zu haben, in einer nicht mehr literarischen, nicht unähnlich darin dem Schicksal jener Philosophie, die sich schon seit einiger Zeit in den Formen der Physik darzustellen hat. Und einer solchen bedarf es dann wohl auch nicht mehr, es sei denn in der Zukunft, wo die Literatur dann als unverzichtbares Hilfsmittel bei der Spurensuche des Menschen, bei Erforschung seiner Geschichte, seiner ganzen „Vorgeschichte“ (Marx), erkannt werden könnte, und wo diese Literatur auch als einstmals einzig allgemeingültige Form der Freiheit, wenn auch als Privileg weniger, und solchermaßen sie überhöhend, gedeutet wird.
faz.net/Internet-Debatte:Wenn Literatur sich im Netz verfängt, Von Thomas Hettche,09.04.2010
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[…] Die Literatur mag sterben, muss sterben, aber nur um sich zuvor in einer höheren Sphäre verwirklicht zu haben, in einer nicht mehr literarischen, nicht unähnlich darin dem Schicksal jener Philosophie, die sich schon seit einiger Zeit in den Formen der Physik darzustellen hat. Und einer solchen bedarf es dann wohl auch nicht mehr, es sei denn in der Zukunft, wo die Literatur dann als unverzichtbares Hilfsmittel bei der Spurensuche des Menschen, bei Erforschung seiner Geschichte, seiner ganzen „Vorgeschichte“ (Marx), erkannt werden könnte, und wo diese Literatur auch als einstmals einzig allgemeingültige Form der Freiheit, wenn auch als Privileg weniger, und solchermaßen sie überhöhend, gedeutet wird.“ (faz.net/Internet-Debatte: Wenn Literatur sich im Netz verfängt, Von Thomas Hettche,09.04.2010) […]
[…] Dass das im Übrigen Auswirkungen auf den philosophischen/ethischen wie auch (neuro-)physiologischen/psychologischen Diskurs haben wird, möchte ich bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen. Denn was wäre der Mensch, was wäre dessen Bewusstsein (über und von sich selbst) ohne die Sprache, ohne die gesprochene und mehr noch ohne die geschriebene Sprache (vgl. Julian Jaynes’ „Der Ursprung des Bewusstsein“, ich erwähnte ihn schon), ja ohne diesen kleinen „Spalt“ zwischen den neuronalen Impulsen und deren „Abdrücke” im Bewussten/Un(ter)bewussten. Auch ein Ralf Singer wird da noch ganz anders diskutiert werden. […]