Die nächste Runde der Pervertierung der Sozialgesetzgebung
Das Jugendamt scheint mit dieser Aufgabe inzwischen völlig überfordert, u. a. deswegen, weil seit der Trennung des SGB II („Hartz IV“) vom SGB XII (Leistungen der Sozialhilfe) für viele, die dem „Arbeitsmarkt zur Verfügung“ stehen, der Weg zum Jugendamt zu „weit“ geworden ist. Ob das so gewollt war, stelle ich mal dahin, jedenfalls ist eine ganzheitliche Familienbetreuung nicht mehr wirklich möglich. Ich drücke es bewusst vorsichtig aus, denn ich will hier keinen Schuldigen ausmachen, außer – den Gesetzgeber selber. Ein komplexes Wechselspiel aus den verschiedenen Gründen, die zu Armut, Bildungsnotstand und weiteren, oft psychosozialen, Überforderungen, in einem bisher gemeinsam betrachteten Klientel von Jugendamt und Sozialamt führten, schuf den Gedanken der ganzheitlichen sozialen Betreuung, nämlich von Wirtschaftshilfe, Sozialberatung und Jugendhilfe, eben Familienhilfe. Man kann die Kinder nicht schützen ohne die Eltern, das war der theoretische Leitgedanke einer langjährigen sozialen Arbeit. Nun will man dem künstlich geschaffenen Mangel noch einen weiteren hinzufügen: die Kinder will man schützen („fördern“), indem man die Eltern kriminalisiert („fordert“) – a priori. Die Pervertierung des Sozialgesetzes geht so in die nächste Runde.
Der Fisch stinkt vom Kopfe her
@Haerter: Die Jugendamtsmitarbeiter sind haftbar zu machen, vorausgesetzt, es liegt keine höhere Verantwortung vor. Und genau eine solche scheint von höherer Stelle aus angenommen zu werden – unausgesprochen. Es geht mir aber gar nicht um die hier skandalisierten Einzelfälle, so tragisch diese auch sind. „Der Fisch stinkt vom Kopfe her“, zitiere ich mal einen ehemaligen Sachgebietsleiter von mir, und genau darauf möchte ich verweisen. Die Inobhutnahme, die Sie hier fordern, wäre in vielen Fällen begründet, nur wie gesagt, wohin mit all den Würmern? Die Jugendämter suchen seit Jahren verzweifelt Betreuungsfamilien/Pflegeeltern. Aber wenn Sie sich die Pflegesätze anschauen – die bewegen sich auf dem Niveau der Sozialhilfe -, dürfte Ihnen schnell klar werden, warum da keine kurzfristigen Lösungen in Sicht sind. Und der Bruch mit dem ganzheitlichen Ansatz, wie ich es beschrieb, verschärft die Situation noch zusätzlich. Hinzu kommt, dass wir in einer gesellschaftlichen Umbruchphase leben, in der die klassische Sozialhilfe-Armut nicht mehr alleine ausreicht, zur Erklärung solcher Vorkommnisse. So beobachte ich einen sich dramatisch verschärfenden Geschlechterkonflikt, vornehmlich beim „Mittelstand“, auf den der Staat offenbar nur repressiv zu reagieren beabsichtigt.
…denn reibt sich der Staat die Hände in Unschuld
@Stramm: Ich bin nicht nur Sozialist, wie ich es auch nicht bestreite, sondern auch vom Fach. Keine Sorge, ich weiß, dass in dem, was Sie sagen, ein Fünkchen Wahrheit ist. Natürlich gibt es solche Pläne nicht weniger Frauen, nämlich sich auf diese Weise der „Arbeitsverpflichtung“ zu entziehen, nur da genau liegt der Hund begraben. Ich möchte jetzt nicht darüber spekulieren, inwieweit eben diese „Arbeitspflicht“ die Probleme erst schafft, doch darüber gerne diskutieren, ob das Problem nicht genau dort liegt, wo es den Schuh auch beim „Mittelstand“ drückt, an dem sich diese Frauen nämlich orientieren. Kinderaufzucht heute ist für den „Mittelstand“ faktisch nicht mehr finanzierbar. Wir beobachten daher dort einen dramatischen Rückgang der Geburten, hingegen eine Stabilisierung bei der Oberschicht und eine Zunahme bei den „Unterschichten“, um mal dieses problematische Wort zu verwenden. In der Tat scheint hier eine Lücke, eben zwischenzeitlich sogar für Teile des Mittelstandes (mit Hartz IV werden „Trennungen“ regelrecht provoziert), die es eben auch solchen Schichten wieder ermöglicht, sich den gewünschten Nachwuchs zu gönnen. Der damit einhergehende soziale Erdrutsch scheint doch gewollt, denn reibt sich der Staat die Hände in Unschuld.
Das Eheglück, das bürgerliche Recht und das Eigentum an Kindern
@Banaschek: Ja, ich liebe diese Theorie auch, Korruption ist für alles gut! Nur hier, scheinen Sie mir ein wenig daneben gegriffen. In der Adoptionsbürokratie wäre das schon eher zu vermuten. Nein, das was Sie hier schlichtweg fordern, ist ein weiter Eingriff, nein ein tiefer Eingriff, in das demokratische Recht, zugegeben das bürgerlich-demokratische Recht. Die Enteignung sozusagen der Eltern, nämlich von ihren Kindern, wirbelt nicht nur eine Menge Probleme auf, bzgl. des Selbstverständnisses des bürgerlichen Staates, nämlich im Bereich der Familienideologie, sondern auch bzgl. der Rechte der Bürger in diesem Staat. Und das hat seinen Grund, denn was dieser Staat nicht möchte, und dafür sind ihm diese Recht gerade recht, ist die Gesamtverantwortung für die Kinderaufzucht, denn dann müsste er auch zahlen – wer bestellt zahlt! So ist es doch bequemer. Der Bürger, der von Liebesgedanken besäuselte, kommt für seine Kinder natürlich auf, im Regelfall, auch dann, wenn ihm das letztlich das bisschen Eheglück zerrüttet. In Härtefällen greift der Staat ein, zur Erhaltung des Systems, des Eigentümersystems, nicht des Eheglücks.
faz.net/Vernachlässigung:Zweijährige qualvoll verhungert,31.03.2010