Verdauerli

Verdauerli
Dem „Materialisten“ Lévi-Strauss dürfte wohl schon lange klar gewesen sein, dass die „Menschheit“ nicht nur im abstrakten – im strukturalen – Sinne existiert, zumal sie wegen ihren kulturellen Verschiedenheiten eben nicht nur eine biologische Einheit darstellt. Eine, die sich wohl all zu bald in nichts mehr unterscheiden wird, vor allem nicht mehr in ästhetischen Dingen – dem Kapital sei dank -, und die, kaum dass sie sich als historisch-konkrete Einheit materialisiert hat, auch nicht mehr in ästhetischer Hinsicht. Die moderne Biotechnologie wird dieser Einheit in ihrer Gegensätzlichkeit das schnöde Ende bereiten. Die Anthropologie als eine Wissenschaft, die sich eben aus den Verschiedenheiten der Einheit Mensch nährt, geht damit ihrem Ende entgegen, so wie ein jener ästhetischer Materialismus. Ästhetizismus ist die Anbetung von Verschiedenheit, die Leugnung von Gleichheit. Wenn eine solche Gleichheit, die ja eigentlich nur eine soziale hätte sein sollen, nur zu dem Preis der Einebnung all jener Verschiedenheiten, die ihre wechselseitige Diskriminierung bedingen, möglich ist, dann eben nieder mit der Anthropologie, es lebe die Eugenik! Ach ja, die Philosophie, die ist schon tot. Es blieb uns Ethik, als Alibi und als Verdauerli dieses Menschenmaterials.

Der Nihilist fügt sich in sein Schicksal
@Fritz: Man sollte bei aller Kritik den Respekt bewahren. „Nihilistische Asche“ ist eine bösartige Polemik. Mit dem Tod verstirbt auch jede Ideologie. Bewahren kann man eine solche nur mit den geistigen Hinterlassenschaften, nicht aber in Kohlenstoffresten eines Menschen. Im Übrigen war Lévi-Strauss alles andere als ein Nihilist, vielleicht war er eine Zeit lang Sozialist, zuletzt blieb der Humanist. Der Doppelbödigkeit eines solchen Humanismus war er sich immer bewusst, so sprach er auch von sich selber als einem Bourgeois. Dass es ihm nicht gelungen ist, das über die Zeit zu retten, wofür er fast sein ganzes Leben gewirkt hat – den Schutz des Mythos -, verdankt er einer Zeit, die keine Mythen mehr benötigt, außer einen, ihr Glaube an die Überlegenheit des westlichen Wirtschaftssystems. Das Gegenstück innerhalb eines solchen Glaubens – hier der Positivismus -, ist tatsächlich der Nihilismus. Der moderne Nihilismus nährt sich von der Ohnmacht gegenüber diesem Glauben, weil ihm die positivistische Überzeugung des „immer-weiter-so“ natur-, wenn nicht gar gottgegeben erscheint. Dagegen kann er nur rebellieren – Gott sei tot, meinte da zum Beispiel Nietzsche -, aber nicht siegen. So fügt sich der Nihilist in sein Schicksal.

faz.net/Zum Tod von Claude Lévi-Strauss: Die Arbeit des Augenblicks, 04.11.09

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Ein Trackback

  • Von Unter israelischer Lupe am 5. November 2009 um 01:33 Uhr veröffentlicht

    […] das „wilde Denken“ (Lévi-Strauss, vgl. „Die Arbeit des Augenblicks“, hier in der FAZ, bzw. Verdauerli), wie noch in der Ilias vorherrschend. Die Odyssee wäre somit der Vorgriff auf die frühe […]

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