Der Schrei des Ungeborenen

Der Schrei des Ungeborenen
Auch wenn es sicherlich richtig ist, von den modernen Aufführungen klassischer, resp. antiker, Stücke zu erwarten, dass sie weniger auf die „Vergangenheit“/den Inhalt des Mythos reflektieren, als sie eben die Zukunft, die aktuelle, antizipieren, so kann es nicht schaden, wenn dennoch die dem Mythos zugrundeliegende Bedeutung nicht ganz verloren geht. In der Orestessage geht es um die (damals) quasi historische Auseinandersetzung zwischen dem alten Mutterrecht und dem neuen Vaterrecht (vgl. hierzu Bornemanns „Das Patriarchat“). Was ist schlimmer zu beurteilen, bzw., was ist überhaupt zu verurteilen: Vatermord oder Muttermord. Was in diesem Mythos abgehandelt wird ist der Untergang des Mutterrechts, die Überlebtheit des Makels des Verbrechens am eigenen Blut und der Sieg des Vaterrechts. Klytämnestra wird hier vor aller Griechen Augen als die historische Verliererin dargestellt. Gleich zweimal. Einmal dank einer erzwungenen Ehe mit ihrem Vergewaltiger und dem Mörder ihres Geliebten und dann als die, die vom eigenen Sohn getötet wird. Die Erinnyen haben keine reale Macht mehr. Der Glaube an sie, ist Teil einer unterlegenen Moral. Sie stehen nur noch für ein schlechtes Gewissen. Den Vergewaltiger, dennoch Vater der Kinder, darf man eben – auch der Kinder wegen, die nun mal auch die seinigen sind (die eigentlich epochale Erkenntnis) – nicht erschlagen. Doch die Mutter, die Kindesmutter, die darf das Kind (des Vaters) töten (was nach dieser epochalen Erkenntnis nur noch eine Banalität zu sein scheint). Die Familie (des Mannes) ist eingekehrt, die Gynokratie ausgekehrt.

Die Darstellung dieses Epochenbruchs macht die ganze Spannung des Stückes. Welche Epoche wir da gerade brechen, sollte Gegenstand einer modernen Inszenierung sein. Im modernen Kontext aber sollte das weniger als Schicksal abgehandelt werden. Die Epoche bricht nicht. Sie wird gebrochen. Die Menschen von heute machen ihre Geschichte selber (damals machten sie sie auch schon, doch wussten sie nichts davon). Also brauchen wir Darsteller, die es verstehen, dass die Darstellung v o r der Bühne stattfindet. Vor jeder Bühne.

Erst im Nachhinein wird Geschichte gemacht. Und zwar nicht nur in dem naheliegenden Sinne, als wir dann erst erkennen, auf welche Weise wir sie letztlich selber gemacht haben, sondern in dem Sinne, dass wir überhaupt was „erkennen“. Das Bewusstsein – wenn auch ein erst nachträglich erworbenes – ist jene Kraft, die Geschichte macht. All das andere ist nur Vorgeschichte. Prägeschichte. Eine Ansammlung von Geschehnissen

So wussten die antiken Stückeschreiber sicherlich nichts von dieser Epoche, die sie da im Bruch vorführen. Doch mit der ersten Theateraufführung, dürfte es dem Einen oder Anderen schon gedämmert haben. Die Massen begriffen es erst Jahrhunderte/Jahrtausende später, nämlich als der politische Kampf ihrer Zeit zur Mobilisierung des bis dato unterdrückten Geschlechts führte. Was schließlich die Theorie vom Patriarchat erst schuf. Und somit zugleich das Mikroskop, welches da eine Geschichtsbetrachtung bis hin zu jenen ersten Anfängen – und zu den überlieferten Mythen aus dieser Zeit – überhaupt erst möglich machte.

Moderne Antizipationen sollten sich ihrer solchermaßen „retroaktiven“ (Zizek) Geschichtsmächtigkeit bewusst sein und daher in vollem Bewusstsein, doch in aller notwendigen Bescheidenheit, denn Verantwortungsbewusstsein, entsprechend wirken.

Wo die Macht der Konzerne angeklagt wird, reicht es nicht, eine „bessere“ Moral einzufordern, oder über eine verlorene bürgerliche Ethik zu jammern. (Welche Erinnyen wollten uns das heute einreden?) Es ist unbedingt notwendig den ganzen historischen Prozess des Kapitals zu rekapitulieren. In seiner ganzen Widersprüchlichkeit. In dessen ganzen Brüchen. Warum sind gewisse Ethiken obsolet. Was genau stellt das Finanzkapital eigentlich dar? Welche historische Bewegung (eben nicht nur als soziale Klasse)? Und wo liegt da die mögliche Geschichtsoffenheit (bei aller Notwendigkeit)? Ist es nicht genau diese Differenz zwischen der historischen Bewegung und dem Klassendasein? Ist es nicht diese „Lücke“ (Zizek) zwischen dem Revolutionären (der historischen Bewegung) und dem Konservativen (dem in der Klasse) wodurch letztlich auch die Freiheit sich „durchzuquälen“ hat. Qualvoll muss sie sich der Umklammerung der konservativen Ethik (Erinnyen) ebenso zu entwinden verstehen wie den Lockungen (Sirenen) derer ständigen Selbstrevolutionierungen. In Brecht sehe ich den Anfang: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. Und in Zizek jetzt vielleicht die Fortsetzung: „Ich möchte lieber nicht!“ (Die Parallaxe)

Dass die Freiheit es nämlich noch nicht vermochte, wozu ihr Brecht so gerne verholfen hätte, liegt vielleicht gerade darin, dass auf der realen Bühne wir selber nicht nur die Darsteller und die Regisseure sind, sondern eben auch die eigene „Hebamme“ (Sokrates). Auf der realen Bühne ist das Ungeborene seine eigene Hebamme. „Ich möchte lieber nicht!“ Auf d e n Schrei des noch Ungeborenen, hat man wohl zu hoffen.

faz.net/blogs/antike/archive/2011/09/02/inszenierung-der-antike-fortgeschrieben

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2 Trackbacks

  • Von Das Doppelgestirn als weißen Zwerg erkennen am 23. März 2012 um 21:16 Uhr veröffentlicht

    […] Für mich verweist das auf ein Problem, das tiefer liegt als gleich welche Ideologie. Es ist das Patriarchat, das gerade im Römerreich seinen ersten Höhepunkt erfuhr. Die Familie der Römer ist immer noch […]

  • Von So untauglich wie das Gewissen eines Bourgeois am 20. November 2012 um 10:42 Uhr veröffentlicht

    […] doch noch aus der Zeit der sog. Gynokratie, der Anbetung der Fruchtbarkeit auf dem Acker, wie im, Schoß der Frau. Das waren sexuelle Massenevents – zur Ehre der Fruchtbarkeitsgötter, wie der Frau. Unter der […]

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