Die Illusion ins Grenzenlose getrieben
„Informanten beispielsweise in Diktaturen seien nun gezwungen, zu flüchten.“ Ja sind denn die USA gar eine Diktatur? Wer sitzt denn gerade ein – dort? Ein mit seinem Narzißmus etwas zu kurz Gekommener wird da behandelt wie ein Guantánamohäftling, quasi in Stellvertretung für Assange.
Diese Heuchelei ist doch zum Würgen. Ich denke es wird Zeit sich mit dem Thema Investigativer Journalismus auseinanderzusetzen. Mit dessen systemerhaltender Funktion. Ich formuliere es mal mit Zizek:
„Die wahre Funktion ausdrücklicher Grenzen besteht folglich darin, die Illusion aufrechtzuerhalten, wir könnten durch ihre Übertretung das Grenzenlose erreichen.“ (Parallaxe, 8. Jenseits der Politik der jouissance, S. 401)
Nun könnte man das insofern missverstehen, als dass man die Staatsapparate als die betrachtet, welche da Grenzen aufrechterhalten und die Enthüllungsplattformen (Enthüllungsjournalisten) als die, die die Übertretung repräsentierten. Wahrscheinlich verstehen sich beide so. Doch wird es vermutlich genau umgekehrt wahrer. Indem eine Plattform wie Wikileaks vorgibt die Grenze – nämlich die des Anstands, die zur Doppelmoral, die eben zur Lüge – aufrechtzuerhalten, gibt sie den Staatsorganen den Vorwand zur Übertretung eben dieser Grenze, bis hin „ins Grenzenlose“. Und damit wird gemeinsam an der Illusion gearbeitet, wir könnten das Grenzenlose je erreichen (Das perpetuum mobile, die Umkehrung des Pfeils der Zeit, die Überwindung der Entropie, sprich: die Ausbeutung ohne Ausbeutung, die ethisch saubere Ausbeutung) Das alles ganz im Stile eines Domscheit-Bergs, der da mit Proudhon glaubt, dass Eigentum Diebstahl sei. Also verbiete man den Diebstahl.
Und es ist witzig wie die Regierungsapparate darauf reagieren. Sie erklären nämlich solche Diebstahlsbekämpfer selber für Diebesgesindel.
Beide arbeiten daran die Illusion selbst ins Grenzenlose zu treiben. Mal in Bezug auf das Eigentum, mal in Bezug auf den Diebstahl.
Ein System, das man nicht mehr mit seinen Methoden bekämpfen kann
@Marco Settembrini di Novetre: Gut, ich hätte das vielleicht klarer formulieren müssen. Aber für mich sind solche Enthüllungsplattformen die Fortsetzung des Enthüllungsjournalismus (mit anderen, eben moderneren Mitteln). Selbst Zizek scheint dem Charme dieser Form des „Widerstandes“ (noch) aufzusitzen. Wie wir an seinem Engagement für Assange entnehmen). Ganz im Widerspruch zu seinem ansonsten viel eleganteren „Ich möchte lieber nicht“.
Und daher stelle ich Ihre Frage auf den Kopf (die ich in Ihrer Version nämlich als schon überholt betrachte):
Wie systemstabilisierend ist die genährte Hoffnung auf Grenzüberschreitung (auch und gerade als subversiver Akt gedacht)? Diesbezüglich verweise ich wiederum auf Zizek, wo er nämlich darauf verweist, dass jede Überschreitung vom Kapital längst vermarktet ist. Quasi schon bevor es gedacht wäre (vgl. „Hysterie und Cyberspace“, Im Gespräch mit Slavoj Zizek).
Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, wie wir „Das Kapital“ von Marx lesen sollten. Eben nicht rein historisch-dialektisch, historisch schon gar nicht, sondern logisch-systematisch (vgl.: dieterwolf.net/pdf/Methodenstreit_Haug_Heinrich.pdf)
Das Kapital schafft eben nicht nur, in seinem Bestreben das System zu erhalten, zugleich seinen Gegensatz, also die Kräfte, die es bekämpft. Sondern umgekehrt: Indem es diese subversiven Kräfte entsprechend in Szene setzt, erhält sich das Kapital. Mit ein Grund für, warum Terroristen so wohlfeil sind. (Und in der Tat: Diese Art von Journalismus ist eine intellektuelle Spielart des Terrorismus – des Cyberterrorismus).
Was ja der Grund für Zizeks Empfehlung auf Enthaltung ist. Enthaltung nämlich von jeder Geste. Revolutionär ist nur noch das, was in diesem Sinne eben nicht mehr nur eine Geste ist. Dem System nicht mehr dienlich ist. Ihm eben nicht zu seiner Selbsterhaltung/Rekonstruktion/Reproduktion/Rechtfertigung verhülfe.
Oder um es noch klarer auszudrücken: Ein solches System kann man nicht mehr mit dessen Methoden bekämpfen.
faz.net/blogs/deus/archive/2011/09/11/an-mir-leakts-doch-nicht
Ein Trackback
[…] Subjekt kreieren. Und der Philosoph dieses neuen Subjekts wäre zum Beispiel ein Slavoj Zizek. Ich habe ihn mehrmals hier vorgestellt. Inwieweit das wirklich realistisch ist, will ich jetzt gar nicht diskutieren, doch erwähnen, dass […]