Späte Zensur

Tucholsky’s Gedicht an das Publikum wird auch nach dem 2. Versuch von der Redaktion der FAZ nicht gesendet. – Späte Zensur!
Nachlese: Ein Tag Bedenkzeit nahm sich die Redaktion der FAZ (das erste Posting war am 22.12.09 um 18.31 Uhr, das zweite um 23.59 Uhr, und heute, ich weiß nicht, wann es dann wirklich gesendet wurde, steht das Posting von 23.59 Uhr im Netz), bis sie sich entschied, den Tucholsky nun doch nicht weiter zurück zu halten. – Späte Einsicht oder raffinierte Taktik, wer weiß das schon? Jedenfalls ist der Beitrag nun nicht mehr so aktuell und ein Großteil der Leser-/Schreiberkarawane ist weiter gezogen.

Der Kader ist nackt
Die Bayern sind ein undramatich dramatisches Volk. Und man rennt dort vielleicht nicht in das eigene „Schwert“, aber schnell in ein „offenes Messer“. Unvergessen eines jenes Seehofers „Liebe“ und dessen Partei-Kabale. Was ihn rettete – vorerst -, war der für ihn typische Opportunismus, der ihn der Liebe seiner Ehefrau wie die der Partei auslieferte. Diesmal geht es um mehr als um eine Frau, oder Partei, es geht um Geld – viel Geld -, Macht- wie Gesichtsverlust. Und es geht um Einfluss, in Bayern, Deutschland und im Balkan. Und es geht um die bayrisch-österreichische Erbfeindschaft und um die Freundschaft der CSU-Oberen zu den Ultras, den „Freiheitlichen“ Kärntens. Es ging und es geht um die Illusion einer alpinen Lokalmacht, wie sie sich als Treppenwitz am Rande der Auflösung des ehemaligen Ostblocks im Balkan anbot. Und es geht um die denkbar schlimmste Blamage für jenen postfeudalen, postfaschistischen, wie postsozialistischen, wenigstens aber katholisch-orthodoxen Kader in der betont unpolitischen Landschaft eines globalen Kapitalismus. Diese bayrisch-kärntnerisch-tschechisch-slowenisch-ungarische (hab ich jemand vergessen?) – und solchermaßen – ultraorthodoxe Rechtsaußen-Seilschaft, innerhalb und außerhalb eines „Vereinigten Europas“, ist nun nackt.

„An das Publikum“
Mit freundlicher Genehmigung v. Kurt Tucholsky, Ges. Werke, Bd. 3, Deutscher Bücherbund, 1967, S. 889ff., oder auch:
yolanthe.de/lyrik)

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: Bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!“
Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!“
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bücher gehn eben nicht!“
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?
Ja dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmässigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser-?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

faz.net/Die CSU und die Bankenaffäre: Im Land der schwarzen Schafe, 21.12.09

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  • Von Wie der gebogene Stachel eines Skorpions am 31. Dezember 2009 um 13:34 Uhr veröffentlicht

    […] Selbstmord eines Tucholsky– so überraschend wie schockierend er den damaligen Antifaschisten auch vorkommen musste – […]

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