„Verlagerung der Akzente auf Kontrolle“

Wettbewerb?

1. Belegen nicht die Krisen des Kapitals – die von Anfang an, und noch mehr die der letzten Jahrzehnte -, dass das alles eben genau so nicht funktioniert, bestenfalls im Modell?
2. Und ist nicht die aktuelle Krise der (neuerliche) Beleg dafür, dass die Versuche, die Wirklichkeit nach diesem Modell zu formen, zu immer schlimmeren Krisen führen?
3. Was erzählen wir eigentlich den zurzeit 1 Milliarde Menschen auf diesem Planeten (und die Krise soll dem noch mal 200 Millionen zuführen), die definitiv keinen Zugang zu „auf eine sozialverträgliche Art und Weise einigermaßen bewegliche(n) Löhne(n)“ haben, nämlich, weil sie gar keine Löhne haben; und damit erledigt sich auch der Zugang zu den Produkten des Marktes – für diese Leute?
4. Und last not least: Was soll das Gerede von „Wettbewerb“ in der Epoche der Herrschaft des transnationalen Kapitals? Es gibt vielleicht einen Wettbewerb zwischen diesem Kapital und den Resten an Nationalstaaten – einen ziemlich asymmetrischen -, das war‘s dann aber auch!

„Verlagerung der Akzente auf Kontrolle“
noirony4884: Das klingt harmloser als es ist, Sie werden es sicherlich auch bemerkt haben: „Wie werden sie den Anschluss an die nächste Gesellschaft finden?“ Die Rede ist hier nicht wirklich von einer „Gesellschaft“, die da eine überholte ablöst, also etwa wie der Sozialismus den Kapitalismus, oder die klassenlose Gesellschaft die Klassengesellschaft, nein, der redet hier von der bürokratischen Ablösung einer bisher noch mehr oder weniger politischen Gesellschaft, also einer Gesellschaft, in der es im Großen und Ganzen noch möglich (da auch notwendig) war, Konflikte – Klassenkonflikte – auszutragen, eine Gesellschaft, die zu kritisieren, wenn auch nicht gerade gern gesehen, aber immerhin im Prinzip noch nicht völlig unterbunden war, wenn auch immer wieder äußerst erschwert. „Verlagerung der Akzente von der Kritik auf die Kontrolle.“ Ich glaub, mich laust der Affe, der Typ meint das ernst.
Bei dieser Gelegenheit ist mir aufgefallen, wie nahe doch ein Sozialismus, der die Austragung von sozialen Konflikten unterbindet, da er sich schon in der klassenlosen Gesellschaft wähnt, eben dieser „Kontrolle“ ist. Daher seine Selbstverliebtheit in seine bürokratischen Strukturen, seine geradezu paranoid anmutende Selbstüberzeugtheit, seiner Kritikresistenz.
Hier liegt sie wohl, die gemeinsame Wurzel von jenem Pseudosozialismus und dem aktuellen bürokratischen Kapitalismus. Die Herrschaften an der Macht sind sich ähnlicher als sie denken. Es scheint sich um dieselbe Tendenz im Kapitalismus zu handeln, um das Wesen der Barbarei, die Ablösung der Politik durch die Verwaltung. Und es wäre insofern die Strafe für das Versagen einer Arbeiterbewegung, die die Kategorien und die Entwicklungsgesetze des Kapitals strikt ignoriert, nur weil sie sich entweder im Kapitalismus als Klasse nicht mehr sieht, oder weil sie sich im Besitz der Macht wähnt, in ihrem Pseudosozialismus.
Es ist wohl richtig, dass die Verwaltung, aber eben die über Dinge, die Politik, das heißt die Macht über Menschen, ablöst, abzulösen hat, im Sozialismus, aber dies wird hier erstens durcheinander gebracht, da man glaubt betreiben zu dürfen und zweitens, da dies in der letzten Stufe des Sozialismus überhaupt erst möglich sein wird, dort wo es tatsächlich keine Klassen mehr gibt, und wo auch weitestgehend die Arbeit obsolet geworden sein wird, und selbstredend der Staat. Hier endet die Politik, hier „endet die (Vor-)Geschichte“ (Marx) – nicht vorher!
Das ist – für mich – eine nicht zu unterschätzende tiefere Erkenntnis. Ich danke Ihnen, Herr Strobl, und natürlich auch, Herr Baecker.

Uneingeschränkt einer Meinung
@Lemming: Sie sagen es, und es freut mich, dass wir mal uneingeschränkt einer Meinung sind. Ist doch die Verwaltung, eine solche die die Politik beerben wird, eine historische Tendenz, die sich allerdings völlig verschieden darstellt, je nach dem ob man es mit einer Klassengesellschaft oder einer klassenlosen Gesellschaft zu tun hat. Und für mich, wo ich doch auch hoffe, den Kapitalismus noch zu meinen Lebzeiten hinter mich gebracht zu sehen (ich möchte meinen Kindern doch noch was vererben), ist es wichtig, zu begreifen, wie sich Fehler/Fehlentwicklungen einer sozialistischen Bewegung, die sich aus dem Nichtverstehen der Besonderheiten ihrer jeweiligen Etappen herleiten – automatisch quasi – in den Aporien des Kapitals verfangen. Es gibt halt keinen 3. Weg. Es gibt keine nichtkapitalistischen sozialistischen Fehler, sowenig wie es einen Sozialismus gibt, der sich nicht aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus herleiten lässt. Das ist das Wesen der Einheit von Widersprüchen – das Wesen in der marxschen Dialektik, wie sie besonders im Kapital dargestellt ist -, auch wenn deren Gegensatz antagonistisch ist. Und genau das kennzeichnet den Zusammenhang, nämlich den systemischen, von „objektiv“ und „subjektiv“.

Ende der Geschichte oder Neuanfang?
@noirony4884: Eine wunderbare Zusammenfassung dessen was bürgerliche Wissenschaft ist. Das Schlimme daran: auch eine gewisse (Nicht-mehr-)marxistische, nämlich vorgeblich „kritische Wissenschaft“ (siehe Robert Kurz) ist in die Fußstapfen dieser bürgerlichen Wissenschaft getreten, da sie entweder nicht begreift, welche Bedeutung die Fehler, die Fehlentwicklungen im Sozialismus haben, oder diese als solche erst gar nicht wahrnimmt, und den (realen) Sozialismus als „nachholende Modernisierung“ missinterpretiert und zugleich beschönigt.
Das eigentlich tragische daran, ist, dass ein jener – und solchermaßen missverstandener – Sozialismus nicht mal eine nachholende Modernisierung darstellt, wie wir am Zusammenbruch des Sowjetblocks all zu deutlich erkennen dürfen.
Der Kapitalismus, resp. der Imperialismus, erlaubt nämlich keine nachholende Modernisierung. Wenn sie wenigstens diese, nämlich leninistische, Lehre begreifen hätten können, wären jene Super-Nicht-Mehr-Marxisten nur halb so schädlich.
So aber reihen sie sich ein, in die lange Kette reformistisch-kapitalistischer Apologie.
Der Kapitalismus ist daher nicht mal als Funktionsträger einer sog. Moderne erträglich, denn er verhindert den Eintritt dieser Moderne für die Mehrheit aller Ökonomien.
Er ist viel mehr Funktionsträger, und dies von Anfang an, der Barbarei als eines modernen Fortschritts.
Das macht den Sozialismus nicht nur zur Bewegung eines revolutionären Subjekts, sondern zur Freiheitsbewegung der gesamten Menschheit, der des Subjekts ganz generell.
Die Antwort des Kapitals darauf ist die ultimative Repression, die Verwandlung der Gesellschaft von Menschen in eine menschenlose Gesellschaft, in eine Gesellschaft von Gesellschaftern, welche zur Verwaltung der eigenen Bürokratie überlassen wird.
Die Philosophie dieser Bürokratie ist die Verwaltung schlechthin, die Verwaltungsphilosophie, die Kontrollökonomie, die Ökonomie der Kontrolle.
Die Antwort darauf kann nur eine äußerst zugespitzte revolutionäre Kritik sein. Die Waffe der Kritik ist solange nicht obsolet, wie die Kritik der Waffen das nicht ist, wie ein Subjekt, ein gesellschaftliches, ergo politisches intelligentes Wesen noch existiert.
Das Kapital schafft selber ständig neue revolutionäre Bewegungen aus diesem Subjekt heraus, bzw. um dieses Subjekt herum. Es gilt dies aufzugreifen und die revolutionäre Theorie darin zu verankern.
Die revolutionäre Theorie muss neben der Selbstkritik, bzgl. der bisherigen sozialistischen Fehlentwicklungen, vor allem die neuen Entwicklungstendenzen des Kapitals analysieren. Im Zentrum stehen die Analyse der Entwicklung der Klassen und des Staates, in der Epoche des transnationalen Kapitals, der Rolle der Arbeit, resp. des Übergangs von der Ausbeutung der Muskelarbeit hin zur Ausbeutung von Geistesarbeit („das Gehirn ist der wichtigste Rohstoff“ – Frank Schirrmacher), der Veränderung am Subjekt selber, im Zeitalter der Biotechnologie, der neuen Formen der Generierung von Wert, Mehrwert und Profit in eben diesem Kontext. Wie abstrakt kann Lohnarbeit im Verhältnis zum Kapital werden? Was wäre hieran Wirklichkeit und was wäre „virtuell“. Was sind die Bedingungen und die Möglichkeiten für ein revolutionäres Subjekt? Dies betrachtet unter philosophischen, soziologischen wie auch (natur-)wissenschaftlichen Aspekten. Welche Rolle spielen die Neurowissenschaften hierbei? Stichwort: kybernetische Intelligenz in Wechselwirkung zur Philosophie der Kontrolle. Die Rolle des Geistes und somit der Bewusstheit im Kampf gegen den vorläufig vorletzten barbarischen Akt innerhalb der Geschichte. – Ende der Geschichte oder Neuanfang?

Versagen wie Erfolgsgeheimnis – gleichermaßen
@noirony4884: Sehr gut, und wenn Sie Baecker wie folgt zitieren: „Wir haben es mit einem Liquiditätspoker um die dominierende Rolle in der Weltwirtschaft zu tun …“, und dann schlussfolgern: „dann ist dies keineswegs überraschend, obgleich unter dem Primat wissenschaftlicher Logik die gegenteilige Schlussfolgerung naheliegt, nämlich dass die Weltwirtschaftskrise ein Symptom des Versagens des Kapitalismus ist“, kann ich nur hinzu fügen, dass beides zugleich zutrifft, aber im vermutlich umgekehrten Zusammenhang.
Die Krise ist Versagen des Kapitalismus, ein Versagen im Hinblick so vieler seiner Selbstverständnisse, wie Massenwohlstand und Demokratie, und doch zugleich genau jenes Selbstverständnis, das nur ganz große Zyniker unkritisch eingestehen: Liquiditätspoker um die dominierende Rolle in der Weltwirtschaft. Kapitalismus ohne Kampf um diese dominierende Rolle ist nicht denkbar, denn im Kapitalismus muss es Gewinner und Verlierer geben, denn das System als ganzes funktioniert nicht. Und darin gründen sich sein Versagen wie sein Erfolgsgeheimnis – gleichermaßen.
Ich verweise auf meinen Leserbeitrag „Nüchtern, pragmatisch, gedämpft aggressiv“, zu: Die Leiden des Exportweltmeister.
Daher ist Ihr „Gedankenspiel“ auch so furchtbar realistisch, denn es reflektiert das ganz normale Spiel eines ganz normalen kapitalistischen Alltags, und die jeweilige Lösung der Krisen.

Scheinbare Ontologie
@noirony4884/Schlegel: In zwei Punkten möchte ich Ihnen widersprechen:
Der Kapitalismus zwingt zum Klassenkampf, zum Klassenkrieg, zum Krieg, diesem Kampf muss man sich leider stellen, das geht natürlich auf Kosten der Innovation in Richtung Kommunismus. Aber bei wem sollen wir uns beschweren? Ist es doch vermutlich der einzige Weg zum Kommunismus.
Auch im Kommunismus – in der klassenlosen Gesellschaft – wird die Dialektik, das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze -, vermutlich nicht überholt sein. Obsolet werden allerdings antagonistische Klassenkonflikte. So wollen wir doch hoffen.
Außerdem würde ich schon sagen, dass Schlegels Beitrag nicht ganz unfruchtbar ist, sieht man davon ab, dass er sich ausschließlich auf den ökonomisch-technischen Prozess, also auf die Entwicklung der Produktivkräfte, kapriziert. Er verweist auf eine große Entwicklungslinie, an die sich zu orientieren nicht schaden kann, denn verweist sie auch auf die Grenzen des Kapitals. Die Ontologie, die hier aber erscheint, ist nur eine äußere, eine von Klassengegensätzen modifizierte. Ontologische Brüche und Revolutionen müssen mit einbezogen werden. Sie sind die eigentliche Geschichte, und recht eigentlich markieren sie unseren blinden Fleck, da unser Verstand auf die äußere Welt hin geeicht ist. Die innere Welt des Menschen ist sein gesellschaftliches Wesen. Das gilt es zu begreifen.
Außerdem dürfen wir nicht übersehen, dass diese Ontologie, eine der Klassengesellschaft ist, nicht eine Über-über-den-Klassen-stehende. Sie wurde durch die Klassengesellschaft erst in Gang gesetzt, und doch ist sie nur eine scheinbare, eine, durch den nachträglichen geschichtlichen Blick geschaffene, soweit man Walter Benjamin dahingehend folgen möchte, in seinem Diktum, dass die Geschichte die Geschichte der Sieger ist.
Der Kapitalismus hat sich nur durchgesetzt, da er die Bauern nicht nur von der Fron befreite – wenn er das überhaupt tat! (Russland und Deutschland zeigen, dass das auch anders ging, allerdings machte das diese Länder zu unberechenbaren revolutionären Zentren) -, sondern sie erneut versklavte, diesmal als freie Lohnarbeiter, und womit er sich zugleich den inneren Markt schuf. Wäre ihm das nicht gelungen, hätte es ihn nicht gegeben, den Kapitalismus. Und wer sagt schon, dass Menschen sich unter allen Umständen zur Sklaverei eignen.
In England gab es hundertjährige Klassenkriege und auch der Bauernkrieg in Deutschland ist nicht ganz unbekannt. Es hätte auch anders kommen können. Das Bürgertum war wohl die historisch fortschrittlichste Klasse, dies aber nur in seiner Verbindung zum Bauerntum. Und das war – und ist – in der Tat seine Achillesferse. Denn auch in Bezug auf eine sozialistische Revolution, war Marx immer der Auffassung, dass diese am besten einherginge mit der Neuauflage eines Bauernkrieges (Lenin: Marx-Engels-Marxismus, Einzelausgabe, Dietzverlag).
Nachdem diese Kriege entschieden waren, zugunsten des Kapitals, konnte sich der Kapitalismus entwickeln und den Lauf der Geschichte bestimmen – für eine gewisse Zeit.

Der, der keine Visionen hat
@Lemming: „Eine Klasse, die klassenkampffähig sein kann, muss ein Bewußtsein ihrer selbst haben, um ein geschichtliches Subjekt sein zu können.“ Sie sagen es, nur verstehen Sie die Theorie nicht. Soweit die Theorie sich mit der Realität beschäftigt, ist die „Klasse“ eine Entdeckung kein „Konstrukt“ der Theorie. Und genau dieses der Klasse dann mitzuteilen, wäre ihre Aufgabe, ihre wichtigste. Ohne dies käme die Klasse niemals zu einem „Bewußtsein ihrer selbst“. Sie sollten Lenins „Was Tun?“ lesen, vielleicht auch erneut lesen, um zu verstehen, was dabei der Unterschied wäre zwischen „Bewusstsein aus sich selbst“ und „ihrer selbst“.
Aus sich selbst kommt nur ein „trade-unionistisches“ (gewerkschaftliches) Bewusstsein, kein sozialistisches. Das sozialistische Bewusstsein entspringt zunächst der Feder des Theoretikers, ist Ergebnis, wenn Sie so wollen „Konstrukt“ der wissenschaftlichen Theorie. Die Verbindung zwischen dieser Wissenschaft und der Bewegung des Proletariats, erzeugt das Klassenbewusstsein, belegt die Echtheit der Entdeckung, belebt das „Konstrukt“. Die revolutionäre Theorie ist eben keine abgeschlossene Theorie, sondern offen in die Richtung, in der sie einzugreifen gedenkt. Es ist dies die Dialektik, in ihr, welche auch außer ihr wirkt. Und diese Theorie stirbt, wenn sie aufhört, Klassenbewusstsein zu schaffen – außer ihr.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von solchen „Belegen“, der Verbindung, der Trennung, des Sterbens. Natürlich ist das alles kein wissenschaftliches Experiment, sondern Ausdruck des Klassenkampfes. Wir reden hier vom wirklichen Leben, vom gesellschaftlichen Leben, nicht vom Labor. Diese Verbindungen sind so wenig auf Dauer, wie sie garantiert sind, sie müssen immer wieder hergestellt werden, um sie muss ständig neu gekämpft werden. Der Klassenfeind schläft nicht, wie wir wissen.

Und es müssen ständig aktuelle Verbindungen hergestellt werden. In der Tat: Das Proletariat vor 150 Jahren unterscheidet sich geradezu fundamental von einem solchen im Jahr 2009. Alte Verbindungen sind wie tote Links, nur noch Spuren einer vergangenen.
Die Analyse der Entwicklung der Klassen muss ständig voran getrieben werden, analog der Entwicklung des Kapitals. Und auch dies sind Aufgaben aus dem Bereich der Wissenschaft. Deren Ergebnisse müssen verifiziert werden – in der revolutionären Praxis.
Die volle Verantwortung für ein Fehlen eines solchen sozialistischen Bewusstseins, trägt also zunächst der revolutionäre Intellektuelle, der, der seine Hausaufgaben gemacht hat, oder auch eben nicht, oder der, der die Klasse einfach im Stich gelassen hat, seiner Karriere willen, zum Beispiel. Oder der, der seine kleinbürgerliche Sicht der Dinge, die Unsicherheiten seiner eigenen Existenz, der wissenschaftlichen Arbeit aufpfropft, also der, der nicht wirklich Wissenschaftler, revolutionärer Intellektueller, ist. Der, der keine Visionen hat. Der, der dem Proletariat keine revolutionäre Potenz mehr zutraut, weil seine Theorie tot ist.

Eine Masse, die sich erhebt, erhebt sie beide
@Lemming: Genau deswegen ist die revolutionäre Theorie für den Intellektuellen so „interessant“. „Herrschaftswissen“ ist so obsolet wie „langweilig“. Bleibt doch der Intellektuelle weiterhin bestrebt die Herrschaft über das Wissen zu erlangen, das macht ihn so ehrgeizig wie anfällig, auch verführbar (Faust). Das macht seine Zwiespalt aus, seine revolutionäre Potenz wie einen reaktionären Charakter – u. U.. Aber es bleibt seine Obsession. Auch tiefenspychologisch betrachtet, wäre es sicherlich nicht falsch anzunehmen, dass auch das Streben nach revolutionärem Wissen, einen faustischen Urgrund hat. Während die einen immer noch aus Blei Gold machen wollen (aus Geld Geld), wollen die anderen aus Sch…e eine bessere Gesellschaft formen. – Gab es da nicht jemand, der aus Dreck einen Menschen gemacht haben soll? Das Unwirkliche, das scheinbar Unmögliche zu fassen, ist es, was den Intellektuellen umtreibt, wie den Physiker in seinem Streben nach dem Unendlichen, den Philosophen im Suchen nach dem Urgrund des Seins, den Theologen beim Erfragens eines Gottes Walten.
Das ist im Übrigen eine ganz menschliche Eigenschaft, nur der Intellektuelle verfügt über die Mittel – die Ausbildung – hierfür, während die Masse sich in aller Regel in ihr Schicksal ergibt. Und das ist des Intellektuellen Chance, wie die der Masse: eine Masse, die sich erhebt, erhebt sie beide, löst des Intellektuellen Zwiespalt, wie der Masse Lethargie, verschafft der Dialektik ihren Durchbruch, beseitigt „letzte“ Zweifel – auf beiden Seiten.
Richtig ist, dass der alte Intellektuelle – auch in der revolutionären Bewegung – einem anderen gewichen ist: Das führende Prinzip weicht einem kollegialen. Die Avantgarde ist ebenso die Lernende. Selbstkritik ist im wesentlichen Erkenntniskritik, auch und gerade des Intellektuellen. Hingegen darf auch die Masse anders verstanden werden. Nicht das Trägheitsprinzip, sondern das der Potenz tritt in den Vordergrund. So wie die Masse wesentlich vergeistigter, intellektueller geworden ist, ist sie auch virulenter, weniger träge.
In der Ökonomie sehen wir das an den immer kürzeren Abständen von Krisen, in der Ideologie an der Beliebigkeit bei der Wahl der Matrix (da gibt es den Unternehmer mit Schlips und Kragen und Irokesenschnitt). In der Soziologie in der Prekarisierung aller Klassen, in der Politik im obsolet geworden sein von Nation, ja gar Staat, an der Macht der Bürokratie, dem Sieg der Verwaltung, der „Kontrolle über die Kritik“ (wir sprachen drüber). In den Naturwissenschaften an der Dominanz des Mikrokosmos, in den Geisteswissenschaften, z.B. in der Mathematik, durch die Verdrängung der Kurvendiskussionen durch Modelldiskussionen und Kybernetik. Schlicht: Die Ablösung der Wirklichkeit durch Möglichkeit.
Auch die Theorie verändert sich. Sie ist weniger paradigmatisch, freier in der Wahl ihrer Kategorien und Zielen. An den Grenzen scheint sie nicht mehr fassbar, wird holistisch, heuristisch, ist weniger „dogmatisch“, nicht mal immer kohärent (wenn wir die Unstimmigkeiten in den Neurowissenschaften nur betrachten) beinahe sinnlich, wenn auch weiterhin sehr abstrakt, ja abstrakter denn je (wie Žižeks Parallaxe). Die Theorie selber verändert die Welt, denn sie ist eine ihrer Möglichkeiten, sie schafft Wirklichkeit, aber sie ist nicht Wirklichkeit, sowenig wie eine Praxis das so einfach ist, denn verkörpert die Theorie, wie auch die unverstandene Praxis, doch eher so was wie die „Lücke“ (Žižek), die Erkenntnislücke, den blinden Fleck, statt die Erkenntnis. Erst durch die Verbindung beider entsteht ein „Etwas“, dargestellt zum Beispiel durch eine „Parallaxe“ (Žižek). Und stellt sie somit doch neu die Frage nach der Möglichkeit des Nichts, statt dem Etwas.

Oder wie ich es mal etwas dramatischer ausgedrückt habe: „Eine so verstandene revolutionäre Theorie vermag aus der Geschichte mehr als nur jenen objektiven Lauf, welche dem Schicksal entlehnt und zur Gesetzmäßigkeit hyperstasiert wird, herauszulesen, zumal die revolutionäre Theorie das von ihr als solches Prognostizierte recht eigentlich erst hervorzubringen vermag.
Ohne Revolutionäre Theorie gibt es eben keine Revolutionäre Praxis, leuchtet es da am postmodernen Ereignishorizont als scheinbar neue Erkenntnis auf, wo es doch längst – und angesichts des nahe stehenden Nichts – lauten müsste: Alles wird zu NICHTS, wenn die Revolutionäre Theorie ein NEUES nicht schafft, was uns auch bedeutet, dass es ohne eine Revolutionäre Theorie kein Revolutionäres Subjekt mehr geben wird
.“ (Philosophus mansisses/ Magie oder Theorie)

faz.net/blogs/chaos/archive/2009/06/24/im-gespraech-mit-dirk-baecker

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