Ein Begriff von Mundraub

Ein Begriff von Mundraub
Auch ich habe so meine erdbeerlichen Erinnerungen, die natürlich statt in fetter Sahne, in biederbürgerlich-kleinbäuerliche Klassendifferenzierung gebettet sind. Der reichste, fetteste und unerträglichste Mensch in meiner Jugendzeit, war der Obsthändler in unserem Dorf. Der, der seine Früchte teuer in Frankfurt absetzte. Und nicht nur, dass er im Sommer uns unsere schwer erschufteten Heidelbeeren, Himbeeren und Brombeeren so billig abkaufte, sodass wir Kleinkinder schon eine Ahnung von der Klassenausbeutung erhielten, sondern dass er auch das größte, verlockendste und daher schwer bewachte Erdbeerfeld auf der sonnigsten Anhöhe oberhalb unseres Dorfes hatte. Im Sommer biss uns das Rot der begehrte Früchte so sehr in die Augen, dass wir glaubten, selber blutig rote Augäpfel zu haben, aber noch mehr quälte uns der, von diesem Feld, her strömende Duft. Trotzdem gelang es uns Kindern, dieses Feld regelmäßig heimzusuchen, und es zusammen mit den noch frecheren Staren so zu plündern, bis uns fast die Bäuche platzten. Dies waren unsere ersten Klassenschlachten, die sich unsere, von Robin Hood und Ivanhoe solchermaßen heldisch aufgeheizten, kleinen Herzen, eben nicht ausdenken mussten, sondern tatsächlich real erfühlen durften. Einen Begriff von „Mundraub“ hatten wir schon, falls man uns erwischen wollte.
Natürlich ist das lange vorbei, zumal der Schlaumeier irgendwann drauf kam, die Felder so reichlich zu spritzen, dass wir nach dem ersten großen Durchfall uns andere Beutezüge ausdenken sollten. Da waren dann noch die Walnüsse, von einem anderen Bauern, aber das ist eine andere Geschichte.

Lehreiche Kindheit
@Don Alphonso: Sie haben recht, aber abgesehen davon, dass uns Kindern das damals wenig bewusst war, waren die Erdbeerfelder leider alle im Privatbesitz. Und wie gesagt, wir „raubten“ da keine Bauern aus, sondern einen fetten Händler, der außer von diesem Erdbeerfeld keine eigene Früchte zum Markt trug, sondern, wie schon beschrieben, die von uns Kindern (und natürlich auch von den Erwachsenen) extrem billig erworbenen. Nicht dass ich das heute wiederholen, oder meiner Tochter nach empfehlen würde – das waren auch andere Zeiten damals -, aber bereuen tue ich es nicht. Ich hatte nun mal nicht nur eine außerordentliche, sondern auch eine lehrreiche Kindheit. Ich denke, dass diese Art „Mundraub“ eine gewisse Tradition hatte, in unserem Spessartdorf. 50 Jahre früher hatten die Leute dort noch gehungert, selbst wenn sie Butter machten, denn diese mussten sie verkaufen, um zu überleben. Leute, die daraus all zu deutlichen Profit machten, waren nicht gut angesehen. Die Bauern hatten auch so eine Art „Klasseninstinkt“. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren, mal abgesehen davon, dass viele durch Bodenspekulation dann doch noch reich geworden sind. So ändern sich die Zeiten.

faz.net/blogs/stuetzen/2009/06/01/soziale-sicherung-auf-dem-feiertaeglichen-erdbeerfeld

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