„Perverse Lust“ am Klassenkampf

„Perverse Lust“ am Klassenkampf
Es ist schwer etwas über die Engländer zu sagen, allgemeines zu sagen, ohne das eine oder andere Vorurteil zu wälzen. Daher versuche es mal very british, ganz im Stile des guten englischen Positivismus (im Gegensatz zum eingedeutschten) also: Die Engländer (Briten), die ich persönlich kenne, sind alles dufte Jungs, lustige Kerle, unkompliziert, eigentlich nicht „spleenig“. Mit einigen trinke ich ab und an ein gutes Bier im Irish Pub, um die Ecke. Ihre Einstellung scheint mir sozialer als ihr Ruf. Und doch: eines Jack Londons East-End-Epos ist mir so stark in die Knochen gefahren, dass ich bis heute London noch keinen Besuch abgestattet habe (bin nur mal kurz vorbei gefahren – auf dem Weg nach Irland, über Wales). Hingegen liebe ich englische Krimis, gleich welche, mag ich die englische Art zu leben, ja gar zu essen, besonders die Marmelade, wie auch die Minzsauce zum Lamm, ja den Wiskey, den englischen Tee, den Portwein…Ich mag auch die kleinen Häuschen, sauber aneinandergereiht, gleich ob in bürgerlichen oder in proletarischen Lagen, denn auch, wenn ich weiß, dass sie eigentlich kleinbürgerlich sind, mildern sie den berüchtigten angelsächsischen Kapitalismus, zumindest dem Schein nach. Aber dass selbst dort der Klassenkampf zuhause ist, weiß man doch spätestens seit „Ganz oder gar nicht“, und damit auch, dass man auch auf ganz demokratische Weise skurril sein kann, also nicht unbedingt ein Aristokrat sein muss. Und man weiß somit auch, dass Diebstahl von Eisen u. U. auch Mundraub sein kann, jedenfalls in England. Und auch das glaube ich zu beobachten: obwohl sich die Klassen in England so fremd sind wie auch anderswo, scheinen die Individuen eben aus jenen Klassen sich noch etwas näher zu sein, als eben anderswo. – Mit Ausnahme vielleicht von den Aristokraten, der eigentlichen upper class Englands – immer noch. Und doch ist das vielleicht der Pferdefuß, ein jener nämlich, der sich vielleicht aus einer all zu großen Nähe aller Nichtaristokraten ergibt. Die Insellage erzwingt es vielleicht. Es waren die Briten, die schon recht schnell, nämlich zu Beginn der Finanzkrise, ernsthaft darüber nachdachten, welchen ihrer (reichen) Nachbarn sie die Tür einschlagen, oder wessen Kopf da auf den Tower gespießt werden soll. Das ist die typische englische Art Klassenkampf wie Sport aussehen zu lassen, bzw. Sport wie Klassenkampf und beides zusammen als rüde Prügelei. Einem Deutschen fällt es nicht leicht, dazu cool zu bleiben, wo ihm das doch all zu kindisch erscheint. Klassenkampf ist eben nicht Köpfe aufspießen, aber das scheinen die Briten schon immer anders gesehen zu haben. Vielleicht kommt da ihnen auch ihre somit wohl nicht angedichtete „perverse Lust“ zustatten.

Wie giftige Pilze sammeln
@Filou: Okay, nun habe ich auch so geschrieben, wie die meisten Leute – mich inbegriffen – reden, Michael-Moore-like halt, die Dinge beschreibend, plastisch vereinfachend, sie nicht hinterfragend. Manchmal ist das nützlich, vor allem dann, wenn wir über (Mit-)Menschen reden, da wir so einander nicht beleidigen können, oder über Verhältnisse, die eigentlich jeder Beschreibung spotten, so dass ihre Beschreibung als größtmöglicher Spott daher kommt.
Es ist allerdings eine Gratwanderung, denn wissenschaftlich-analytisch ist das gerade nicht. Und ich stelle mir vor, „Das Kapital“ wäre so geschrieben, ein spannender Roman, doch eben damit nicht nur mit Fakten überfüllt, sondern auch sehr vergänglich, und damit sich sehr begrenzend.
Die Abstraktion will die Zeit bannen, das ist ihre Leistung, aber auch dort wird sie begrenzt, denn sie kann die Zeit nicht bannen, nur erweitern. Der positivistisch, letztlich empirisch, gefasste Begriff begnügt sich mit dem vorhandenen Phänomen seiner Zeit. Das ist wie mit dem Pilze sammeln, die meisten Pilzesammler wissen, dass es giftige Pilze gibt und kennen auch einige von ihnen, aber da sie selten wissen warum diese Pilze giftig sind, erwischen sie irgendwann doch einen giftigen (und überleben den hoffentlich).

Kein Raum für Vorurteile
@Filou: Warum? Mögen Sie Michael Moore nicht, oder wenn ich mich mit ihm vergleiche? Letzteres tue ich natürlich nicht, er ist ein unschlagbarer Meister, eben ein Amerikaner; ein Deutscher kann das gar nicht! Ich kenne nur einen Deutschen, der das sehr gut konnte, nicht mittels Satire, sondern in seinen tragischen Geschichten: B. Traven, schon als Person ein Mythos, aber wie viel mehr in seiner unvergleichlichen Art uns modernen Menschen Denken und Handeln des mexikanischen Indios geradezu plastisch (ja beinahe gar nicht literarisch, er malt Bilder, meißelt Gestalten) anzubieten, und uns so nebenbei klar zu machen, wie eine Revolution funktioniert, dort und vielleicht sogar auch hier. Ein Kind kann das verstehen und doch ist es hohe Literatur, realistische Literatur, die auch die Magie jener Völker einfängt, ohne sich dieser als „magischer Realismus“ vorzustellen (aber auch nicht als sozialistischer uns). Eine literarische Gratwanderung aus der Perspektive der Moderne, und ein gutes Beispiel für wie Sprache als intersubjektive Brücke und nicht zur Abgrenzung benutzt werden kann. Kein Raum für Vorurteile wie schlechte Gedanken, keine Sprache für Klassenfetischisten, Sprache im guten Sinne des Wortes, mehr Musik als Rhetorik.

Die Korrektur schlechter Mittel
@Filou/Diener: Ich danke für diese Beiträge, sie sind wirklich sehr erfrischend. „Sozialist im weitesten Sinne“, das sind vermutlich mehr als wir alle zusammen glauben. Das Problem mit der Gewalt, habe ich an anderer Stelle auch schon angesprochen, und ich kann nur wiederholen: den Klassenkampf führt nicht nur eine Klasse. Ich glaube nicht, dass das deutsche Proletariat von Anfang an schier gewaltig war, es passierte viel, sehr viel, um eine derartige Unerbittlichkeit, geradezu als Charaktereigenschaft heraus zu bilden, wie ich sie übrigens nicht nur bei „Klassenkämpfern“ beobachte.

Ich kannte da persönlich einen Menschen, einen ehemaligen Bergmann, der den ersten Weltkrieg, die Revolution, die Konterrevolution(en), den Faschismus, den 2. Weltkrieg… persönlich erlebt hatte, er ist sehr alt geworden, doch ist er mittlerweile tot. Er war ein ganz gewöhnlicher Mensch, nicht besonders bewusst, nicht links, aber Schnurgerade aus, mit eisernen Grundsätzen und einem unbeugsamen Charakter. Er erzählte mir, wie er und andere Soldaten 1918 die Grundbesitzer von ihren Wagen geholt hätten, ihnen die Milch abgenommen, damit die Kinder, ihre Kinder, Arbeiter- und Soldatenkinder, nicht verhungerten. Er erzählte das ungerührt, und ich spürte die Gewalt in seinen Erläuterungen und in seinem Wesen. Er hatte nicht mal Kontakt mit den Revolutionären, doch handelte er spontan revolutionär.

Ja, er war „hart wie Kruppstahl“, das stimmte, aber wer hat diesen Stahl gehärtet? (vgl.: „Wie der Stahl gehärtet wurde“, von Nikolai Ostrowski, geb. 1904, Bolschewik). Wer hat diese Menschen so hart werden lassen? Ich bin kein Freund solcher Charaktere, und ich mochte ihn noch nicht mal, jenen alten Mann, eben weil er so gewalttätig, so unerbittlich, geblieben war, aber ich war fasziniert von seinen Geschichten, und von der Art, wie er die Dinge vertrat, ohne Reue, aber auch ohne Hass, einfach weil es notwendig war; das war beinahe wie: „Der rote Großvater erzählt“ – eine Art „Märchenbuch“ für erwachsene Kommunisten – aus den 30ern für die 70er.

Der berechtigte Wunsch eine „gute Sache“ mit „guten Mitteln“ durch zuziehen – Marx wünschte sich das für England – eine Zeit lang -, scheint eben nicht zu funktionieren. Und ich erwähnte es auch schon: die ersten Opfer des Kommunismus waren die des Antikommunismus, nämlich die Pariser Kommunarden – 20000 wenn nicht gar 30000 wurden da ohne Not standrechtlich erschossen, von Bismarcks Soldaten auf Wunsch der besiegten französischen Bourgeoisie (vgl.: „Gemordet in Klassensolidarität“).

Dann hat man oft die Wahl: verzichte ich auf die gute Sache oder auf die guten Mittel? Ich habe mich für letzteres entschieden – im Zweifel, mit Zweifeln, denn auch bereit zur Selbstkritik und zur Prüfung, aller Ansichten, auch der meinigen. Denn natürlich kann die Sache durch die Mittel verdorben werden, aber es muss nicht so sein!
Sind doch Kritik und Selbstkritik die besten Mittel, wenn nicht gar die einzigen, auch zur Korrektur schlechter Mittel.

„Authentischer Marxismus“?
@Rosinante: Danke, es ist gut zu wissen, dass ich kritisch, aber eben doch gelesen werde. Nur kurz noch zwei Dinge: Hegel war Idealist, objektiver Idealist, Feuerbach war Materialist, und die kritische Überarbeitung beider ergab den dialektischen Materialismus eines Marx.
Zum fernen Osten. Sie haben recht. Ich habe wohl nicht wenig gelesen – vor allem über und aus China -, doch mir mangelt es an einem empirischen Zugang. Ich habe diese Region nie besucht, daher werden Sie von mir dazu auch nur wenig hören. Aber ich höre gespannt zu. Und ganz sicher, ist der Marxismus, so wie wir ihn kennen, ein europäisches Produkt. Von Lenin – das wird vielen nicht schmecken, was ich jetzt sage -, wurde er dann brauchbar gemacht für Russland, den Orient, den noch nicht ganz fernen. Schließlich war es zuletzt ein Mao Tse Tung, der den Marxismus für chinesische Verhältnisse anpasste. Was dann am Ende daran noch Marxismus ist, authentischer Marxismus, ist sicherlich eine interessante Frage, aber eigentlich eine zweitrangige. Die Revolutionen werden von den Massen gemacht, von den Völkern, in der Praxis, und die Theorie hat dieser auch zu folgen, wenn sie ihr Ratschläge erteilen will. In diesem Sinne, versuche ich den Mao zum Beispiel nicht durch eine all zu westliche Brille zu verstehen, selbst (gerade) wenn ich ihn kritisiere.

faz.net/blogs/ding/archive/2010/01/18/das-herz-von-raum-und-zeit-greenwich

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